Erich Mühsam

Das Weltbild des Anarchismus

(1932)

 



Anmerkung

Veröffentlicht unter dem allgemeinen Titel, Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat: Was ist kommunistischer Anarchismus?, Berlin, Fanal, 1933.

 


 

Anarchismus ist die Lehre von der Freiheit als Grundlage der menschlichen Gesellschaft. Anarchie, zu deutsch: ohne Herrschaft, ohne Obrigkeit, ohne Staat, bezeichnet somit den von den Anarchisten erstrebten Zustand der gesellschaftlichen Ordnung, nämlich die Freiheit jedes einzelnen durch die allgemeine Freiheit. In dieser Zielsetzung, in nichts anderm, besteht die Verbundenheit aller Anarchisten untereinander, besteht die grundsätzliche Unterscheidung des Anarchismus von allen andern Gesellschaftslehren und Menschheitsbekenntnissen.

Wer die Freiheit der Persönlichkeit zur Forderung aller Menschengemeinschaft erhebt, und wer umgekehrt die Freiheit der Gesellschaft gleichsetzt mit der Freiheit aller in ihr zur Gemeinschaft verbundenen Menschen, hat das Recht, sich Anarchist zu nennen. Wer dagegen glaubt, die Menschen um der gesellschaftlichen Ordnung willen oder die Gesellschaft um der vermeintlichen Freiheit der Menschen willen unter von außen wirkenden Zwang stellen zu dürfen, hat keinen Anspruch, als Anarchist anerkannt zu werden. Die verschiedenen Ansichten über die Wege, welche die Menschen einzuschlagen haben, um zur Freiheit zu gelangen, über die Mittel, mit denen die der Freiheit widerstrebenden Kräfte zu bekämpfen und zu besiegen sind, über die endlichen Formen und Einrichtungen der freiheitlichen Gesellschaft bilden Meinungsgegensätze zwischen anarchistischen Richtungen innerhalb der gemeinsamen Weltanschauung. Ihre Vergleichung und Abwertung ist nicht Aufgabe dieser Schrift, die sich darauf beschränken will, die Grundsätze des kommunistischen Anarchismus, wie sie der Verfasser und die ihm in Ueberzeugung und Kampf am nächsten stehenden Anarchisten für richtig halten, darzulegen und der Werbung zu empfehlen.

Die wissenschaftliche Ausdeutung des Begriffs Kommunismus kann hier ebenfalls unterbleiben, zumal es den kommunistischen Anarchisten nicht so sehr um eine dogmatische Festlegung der Austausch- und Verbrauchsregelung der von Staat und Kapitalismus befreiten Gesellschaft zu tun ist, als um die Schaffung freiheitlicher Verhältnisse im Sozialismus an Stelle des von den Staatssozialisten, besonders von den Marxisten, angestrebten autoritären, obrigkeitlich geleiteten und zentralistisch verwalteten Sozialismus. Wir verstehen unter Kommunismus die auf Gütergemeinschaft beruhende Gesellschaftsbeziehung, die jedem nach seinen Fähigkeiten zu arbeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen zu verbrauchen erlaubt. In dieser Wirtschaftsform glauben wir die sozialistische Grundforderung der Gleichberechtigung aller Glieder der Gesellschaft sicherer verbürgt als im Kollektivismus oder im Mutualismus, die den Anteil am gemeinsamen Erzeugnis in ein Berechnungsverhältnis zur geleisteten Arbeit setzen wollen. Der freiheitliche Sozialismus läßt diesen verschiedenen Möglichkeiten, die alle ihre Verteidiger unter Anarchisten gefunden haben, genügend Spielraum. Auch darüber können erst die Versuche und Erfahrungen der Zukunft entscheiden, in welchem Umfange etwa die Freiheit der Bedürfnisbefriedigung das Sondereigentum an persönlichen Gebrauchsgütern erfordert. Entschiedene Abgrenzung aber ist geboten gegenüber den nur individualistischen Anarchisten, die in der egoistischen Steigerung und Durchsetzung der Persönlichkeit allein das Mittel zur Verneinung des Staats und der Autorität erblicken und selbst den Sozialismus wie jede allgemeine Gesellschaftsorganisation schon als Unterdrückung des auf sich selbst ruhenden Ich zurückweisen.

Sie schließen die Augen vor der naturgegebenen Tatsache, daß der Mensch ein gesellschaftlich lebendes Wesen ist und die Menschheit eine Gattung, in der jedes Individuum auf die Gesamtheit, die Gesamtheit auf jedes Individuum angewiesen ist. Wir bestreiten die Möglichkeit und auch die Wünschbarkeit des vom Ganzen losgelösten Individuums, dessen vermeintliche Freiheit nichts anderes sein könnte als Vereinsamung, mit der Folge des Untergangs im sozial luftleeren Raum. Wir behaupten: niemand kann frei sein, solange es nicht alle sind. Die Freiheit aller aber und damit die Freiheit eines jeden setzt voraus die Gemeinschaft im Sozialismus.

Sozialismus ist, wirtschaftlich gesehen, die klassenlose Gesellschaft, in welcher der Grund und Boden sowie alle Produktionsmittel der privaten Verfügung entzogen sind, somit weder Grundrente noch Unternehmerprofit noch auch die Abgeltung vermieteter Arbeitskraft durch Lohn oder Gehalt die schaffenden Hände und Hirne um den Ertrag ihrer Mühen berauben können. An der Stelle der privaten oder staatlichen Ausbeutung steht die planmäßige gemeinsame Bewirtschaftung des Gemeineigentums, an der Stelle der bevorrechtigten Minderheit der Besitzenden jedes Landes die zum Volk geeinte Gesamtheit in allen Ländern.

Sozialismus ist über die wirtschaftliche Begriffsdeutung hinaus ein sittlicher Zustand und ein geistiger Wert. Denn er bedeutet nicht nur vernünftige Regelung von Arbeit, Verteilung und Verbrauch und dadurch Sättigung und Befriedigung aller natürlichen Bedürfnisse des materiellen Lebens für alle; er bedeutet auch Erfüllung derjenigen sittlichen Forderung, deren Mißachtung die Menschen schwerer beleidigt und bei der Gewöhnung tiefer herabwürdigt als Hunger und jede andere leibliche Entbehrung: der Forderung der Gleichberechtigung. Not, Elend jeder Art, die Last höchster Anstrengung unter trübsten Verhältnissen ist zu ertragen, wenn die Last unter allen gleich verteilt ist, wenn im lebendigen Gemeinschaftsgedanken das Leid des einzelnen mit dem allgemeinen Leide verschmilzt und somit auch der Wille, die Ursachen des Unglücks zu beseitigen, aus dem Gefühl der Verbundenheit aller mit allen erwächst. Nicht zu ertragen jedoch ist oder sollte wenigstens sein die Not, die der Ausdruck ungerechter Zustände ist. Eine Gesellschaft, die Kinder Mangel leiden läßt, die der Mehrzahl der Menschen in der Entwicklung, in der Blüte des Lebens und im Alter das genügende Sonnenlicht, die reine Luft zum Atmen, gesunde Ernährung, Erholung, Reinlichkeit, Pflege des Körpers und Ausweitung des Geistes vorenthält, um einer Minderheit Reichtum und Macht zu gewährleisten; eine Gesellschaft, in welcher die entbehrungsvolle Arbeitsüberbürdung der einen den mühelosen Wohlstand der andern schafft; eine Gesellschaft, die nicht imstande ist, allen arbeitsfähigen und nach Arbeit begehrenden Menschen selbst bei kümmerlichster Entlöhnung Arbeit zu geben, und die den noch beschäftigten Ausgebeuteten die ganze Last der Erhaltung der Erwerbslosen mitsamt der Last fast der ganzen Kosten des der Aufrechterhaltung dieses Irrsinns dienenden Verwaltungsapparates aufpackt, zu dem einzigen Zweck, die soziale Ungleichheit zugunsten der Nutznießer des kapitalistischen Wirtschaftsverfahrens zu verewigen; kurz eine Gesellschaft wie die, in welcher wir leben, kann nicht durch bloße Veränderung ihres materiellen Gefüges in eine sozialistische verwandelt werden.

Die Marxisten irren in der Annahme, die geistigen und sittlichen Eigenschaften der Menschen erständen mechanisch aus den Produktionsformen der Wirtschaft, die religiösen, rechtlichen und wissenschaftlichen Erkenntnisse einer Zeit seien nichts als der ideologische Ueberbau der materialistischen Gegebenheiten. Hier findet ununterbrochene, in der Reihenfolge nicht unterscheidbare Wechselwirkung statt. Der Kapitalismus brauchte ebensowohl geistige wie materielle Voraussetzungen, um die Herrschaft über die Völker anzutreten; er mußte den Geist der ihm hörig gemachten Menschen durch sorgfältigen Einfluß auf Erziehung und Bildung willfährig halten, das Unrecht von Ausbeutung und Ungleichheit als schicksalhafte Unabänderlichkeit zu ertragen. So bedarf auch der Sozialismus geistiger Vorbereitung zur Verwirklichung und der Rechtfertigung nicht allein aus seinen materiellen Vorteilen für die Mehrzahl der Menschen, sondern aus seinem geistigen Gehalt. Diese Rechtfertigung ist aber nur möglich, wenn der Sozialismus, über seine Eignung, geistige Werte zu entwickeln hinaus, selbst als geistiger Wert erwiesen und erkannt wird. Die Erneuerung der wirtschaftlichen Beziehungen im Sozialismus kann im Sinne der Gleichberechtigung aller nur wirksam werden bei gleichzeitiger Erneuerung der geistigen Beziehungen zwischen den Menschen, wie nur erneuerte geistige Beziehungen imstande sind, im Wirtschaftlichen aus dem Individualismus der Ungleichheit den Sozialismus der Verbundenheit zu schaffen.

Indem also der kommunistische Anarchismus mit allen sozialistischen Lehren einig geht in der Zielsetzung der wirtschaftlichen Gleichheit als Grundlage des Verkehrs der Menschen untereinander, betrachtet er diese gesellschaftliche Umgestaltung im Gegensatz zu den nur materialistisch gerichteten Lehren des Marxismus nicht als einzigen Inhalt seines Strebens, sondern als eine der unerläßlichen Bedingungen für die durchgreifende und alle Lebensbeziehungen erfassende Neuschaffung der Gesellschaft überhaupt. Der Begriff der Gleichheit möge nicht in der Bedeutung von Gleichmacherei verstanden werden. Im Gegenteil ist die Forderung der Gleichheit nichts anderes als die Forderung: Gleiches Recht für alle! Das heißt: gleiche Bedingungen für einen jeden, seine Anlagen zu ihren günstigsten Möglichkeiten zu entwickeln. Wirtschaftliche Gleichheit besagt soviel wie Ausschaltung aller aus widrigen Umständen, zumal aus Mangel, erwachsenen Störungen, die die Entfaltung der Individualität in ihrer Verschiedenheit von allen anderen Individualitäten behindern. Gleichheit, als Gleichberechtigung verstanden, unterbindet nicht, sondern ermöglicht erst das Wachstum der Persönlichkeit. Während die kapitalistische Gesellschaft das Kind des Reichen in seidene Steckkissen legt, es bei gewähltester Körper- und Geistespflege aufzieht, ihm hohe Wissensbildung zuführt und, ohne Unterschied der Begabung und des Charakters, ihm die Berufe der Herrschenden erschließt; während sie, ebenfalls ohne Unterschied der Begabung und des Charakters, das Kind des Armen in trüben Wohnlöchern, bei wenig Licht und schlechter Luft, in trauriger, gequälter Umgebung von früh an den Einflüssen und Eindrücken des Elends preisgibt, ihm den Unterricht versagt, der den Zwecken der Mächtigen Abbruch tun könnte, es zur Knechtsgesinnung erzieht und zur persönlichkeitstötenden Arbeit zwingt, – gewährt die Gleichheit des Sozialismus jedem Kinde Licht, Luft, Lust und Raum zum Gedeihen aller Keime, die aus Natur und Bewußtsein einen Menschen in seiner Besonderheit und in seiner Verbundenheit mit seinen Zeit-, Schicksals- und Artgenossen werden läßt. Der Kapitalismus treibt demnach ödeste Gleichmacherei in zweierlei Art, solche, die für die besitzende Klasse und solche, die für die ausgebeutete Klasse gilt; der klassenlose Sozialismus hingegen schafft für alle Menschen die Gleichheit der Voraussetzungen, auf denen jede Persönlichkeit in der vollen Mannigfaltigkeit ihrer einmaligen Wesenheit, aber in harmonischer Zusammengehörigkeit mit dem gesellschaftlichen Ganzen nach ihren Fähigkeiten Werte schafft, nach ihrem Bedürfnis an der Benutzung des Allgemeinguts teilnimmt.

Erst wenn auf solche Weise der Grundsatz der Gleichheit geistigen Sinn und sittliche Erhöhung erfährt, ist er nach anarchistischer Auffassung sozialistisch gerechtfertigt. Nicht auf den Ausgleich ins Wanken geratener äußerlicher Verhältnisse zwischen den Menschen kommt es an, sondern darauf, daß dieser Ausgleich aus innerlicher Notwendigkeit unternommen wird; und nicht die Ungleichheit an sich ist hinlänglicher Anlaß Gleichheit zu schaffen, sondern die Ungerechtigkeit, die in der Ungleichheit zutage tritt. Gäbe es nur materielle Erwägungen, um über die Fragen des sozialen Lebens zu entscheiden, wäre die Moral in der Tat nur die ideologische Einkleidung handfester Nutzensberechnungen, dann müßte man sich mit den Kapitalisten auf die waghalsigsten Auseinandersetzungen über die Zweckmäßigkeit ihres Systems einlassen. Der Hinweis auf Hunger leidende Kinder und auf alle übrigen Erscheinungen der Verelendung und Verwahrlosung der werktätigen Klasse könnte ja gar nicht von der Notwendigkeit überzeugen, daß ihre Ursachen abgestellt werden müssen, wenn die Produktionsweise wirklich überall und immer Ausgangspunkt des menschlichen Denkens, Wollens und Bewußtseins wäre. Die Produktionsweise der Gegenwart ist kapitalistisch. Daß sich im materiellen Dasein hieraus für Kapitalisten wie Proletarier ein bestimmtes Verhalten ergibt, versteht sich von selbst. Die marxistische Formel jedoch: das Sein bestimmt das Bewußtsein, bei der das Sein ausdrücklich als ökonomischer Zustand gekennzeichnet ist, ist höchst bestreitbar. Das Bewußtsein des Menschen wird außer von materiellen Werten noch von vielerlei Eindrücken bestimmt und empfängt aus seelischen Bewegkräften manchmal selbst da noch die stärkste Anregung, wo sich die Anteilnahme auf kapitalistische Tatsachen bezieht. Richtig ist, daß die Verhältnisse das Verhalten bestimmen, wobei keineswegs nur ökonomische Verhältnisse in Frage kommen, es können auch aus dem Charakter, der geistigen Besonderheit, der Bindung an andere Personen, dem Klima, dem kosmischen Geschehen entquellende Verhältnisse sein, und wobei das Verhalten ganz unabhängig von allen Produktionsformen von ursprünglichen moralischen Empfindungen angetrieben werden kann.

Der Kapitalismus freilich ist in all seiner Wirksamkeit auf nur materialistische Denkweise angewiesen. Er kann der logischen Erwägung, daß im Elend lebende und vom Genuß der gesellschaftlichen Güter in weitem Maße ausgeschlossene Volksschichten eine Schädigung des sozialen Wohlstandes bedeuten, ihre Züchtung daher materiell unzweckmäßig sei, seine Logik entgegenstellen, wonach die Ansammlung der Besitzgüter in den Händen einer geringen Zahl von Großverbrauchern die nützlichste Verwendung der benötigten Arbeitskräfte erlaube, wobei als Gradmesser der Nützlichkeit natürlich die aller moralischen Einschätzung entrückten und auf Machtverhältnisse gestützten materiellen Bedürfnisse der Kapitalisten gelten. Mit der Logik allein und gar mit der wissenschaftlich aufgepolsterten Lehre vom historischen Materialismus ist das Wirtschaftssystem des Kapitalismus nicht zu widerlegen, noch weniger zu bekämpfen oder durch ein besseres System zu ersetzen. Von irgendeinem unpersönlichen Standpunkte aus kann man den Dingen, die sich so gut wie ausschließlich im persönlich Menschlichen auswirken und gerade durch ihre Bedrückung der persönlich Betroffenen als unerträglich empfunden werden, nicht beikommen. Die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft an Stelle der kapitalistischen ist, obwohl die tatsächlichen Veränderungen hauptsächlich in der vollständigen Neuordnung des wirtschaftlichen Gemeinschaftslebens bestehen werden, als Notwendigkeit nur unter den Gesichtspunkten der den Menschen angeborenen gesellschaftlichen Ethik zu erweisen. Hier ist einer der entscheidenden Gegensätze zwischen der anarchistischen und der marxistischen Lehre vom Sozialismus.

Die Kapitalisten haben nie versucht, die Grundsätze ihres Verfahrens zum ewigen Menschheitsgesetz zu erheben. Sie wenden den Kapitalismus an, weil er ihnen die Macht über das Proletariat und die Vorrechte ihrer Ausnahmestellung sichert. Die kümmerlichen Rechenkunststücke, die die Ertragsunfähigkeit der Erde behaupteten, kraft deren immer nur eine erlesene Minderheit Wohlstand genießen könne und die große Mehrheit von der Natur selbst zur entbehrungsvollen Sklaverei verurteilt sei, werden sogar von dieser Minderheit nicht mehr ernst genommen. Da erschien als Retter in der Not der Marxismus mit der verwegenen Theorie von der Gesetzmäßigkeit der Denk- und Handlungsweise, die bisher nur der Kapitalismus bis zur letzten Folgerichtigkeit ins soziale Leben getragen hatte. Der Materialismus, das ist die Weltgestaltung aus rein rechnerischen Erwägungen, die Ordnung des Lebens unter nichts als Stoffwechselgesichtspunkten, – diese geistlose Herabwürdigung aller Menschheitsfragen zu bloßen Angelegenheiten der Produktion und Verteilung, erhielt die Weihe einer schicksalgewollten, unabänderlichen, ewig gültigen Einrichtung der Natur. Wir Anarchisten bekämpfen den Kapitalismus, weil er die geistigen und sittlichen Werte der Menschheit den Gewinn- und Machtgelüsten einer skrupellos materialistisch denkenden Herrenschicht unterordnete. Wir glauben, daß der Klassencharakter der Gesellschaft, wie ihn der Kapitalismus bis zum Auseinanderklaffen der Völker in zwei verschiedene Tiergattungen ausgebildet hat, nur durch die Ueberwucherung des gesamten Lebens von materialistischem Denken und Trachten möglich wurde; daß aber umgekehrt die Uebersteigerung der materialistischen Triebe immer und unter allen Umständen zu Klassenscheidungen der Gesellschaft, mithin zur Versklavung des einen Teils und zur Herrenmacht des anderen Teils führen muß. Wir glauben ferner, daß die Verrottung der kapitalistischen Gesellschaft, ihr hilfloses Herumtorkeln in der eigenen Mißwirtschaft, ihr Zufluchtsuchen bei Kriegen und immer brutalerer Knechtung der enteigneten und entrechteten Massen ihre tiefste Ursache im Widersinn des nur materialistischen Fühlens, Denkens und Handelns hat. Die Natur läßt sich auf die Dauer nicht in der Weise mißhandeln, daß die Ernährung und die Sicherung des physischen Seins, für die Vorsorge zu treffen Voraussetzung und Bedingung des Lebens ist, zum Inhalt des Lebens gemacht werden. Daraus entsteht mit Notwendigkeit Raffsucht, Uebervorteilung und Macht, die in allen Fällen zugleich Machtmißbrauch ist.

Wir wollen den Sozialismus, weil wir in dieser Gesellschaftsform die Bürgschaft erkennen, dem Dasein der Menschen eine Grundlage der materiellen Notwendigkeiten und Bequemlichkeiten zu sichern, auf der sich das gesellschaftliche Leben zu den besten Möglichkeiten seelischer und geistiger Verbindung emporheben kann. Und nun wird den Sozialisten eine Lehre gebracht, die das Wesen des Kapitalismus ausgezeichnet darlegt, alle seine Erscheinungsformen erklärt und in ihren Wirkungen sichtbar macht. Aber aus Entstehen und Walten des Kapitals wird ein Gesetz abgeleitet, als ob die Einrichtungen, die die Menschen sich geschaffen haben, von Natur wegen bedingt wären, dieses Gesetz wird umschmückt mit den Perlen philosophischer Erkenntnis und unumstößlicher Wissenschaft, und denjenigen, welche den Kapitalismus stürzen, den Sozialismus an seine Stelle setzen sollen, wird gesagt: der Sozialismus könne nur auf denselben Grundlagen erwachsen wie der Kapitalismus; der Materialismus, der der Urstoff des Kapitalismus ist, müsse erkannt werden als historischer Materialismus, somit als der Urstoff jeder Gesellschaftsordnung. Die materialistische Betrachtungsweise lehrt, daß der Kapitalismus nur werden konnte, was er ist, Ausdruck der modernen Sklaverei, der Entpersönlichung der Menschen, der Unterwerfung des Willens unter den Mechanismus eines nur ökonomischen Getriebes, weil er, zwar nicht theoretisch, so doch praktisch die materialistische Nützlichkeit zum Hebel aller gesellschaftlichen Kräfte machte. Ihr Sozialisten aber, sagen die Marxisten, seid den Kapitalisten dadurch noch über, daß ihr sogar die Theorie habt; geht hin und schafft den Sozialismus, indem ihr die materialistische Betrachtungsweise auch eurem Werk zugrunde legt!

Konnte den Inhabern der kapitalistischen Macht ein größerer Gefallen erwiesen werden als durch solche Lehre? Sind sie nicht sittlich gerechtfertigt, wenn die Sozialisten die Weltanschauung, auf der ihr verwünschtes System ruht, zum Sockel der eigenen Welt erwählen? Die Mittel der Zerstörung eines schlecht befundenen Gesellschaftsbaues mögen von seinen Verteidigern in die Hände der Angreifer gezwungen werden, wie der Kampf gegen Bewaffnete kaum anders als mit Waffen geführt werden kann; wer aber zum Bau einer neuen Gesellschaft die Bausteine der gestürzten benutzen will, der wird zugleich dem alten Geist die neuen Einzugstore bauen. Der Sozialismus hat mit dem Kapitalismus keine Gemeinschaft, nicht in der ökonomischen Struktur noch im ideologischen Inhalt. Daß der Sozialismus an die Stelle des Kapitalismus treten soll, hat seinen Grund nicht in der praktischen Logik zweckdienlicher Oekonomie, sondern im moralischen Gewissen der gerechten Denkart. Wir verabscheuen den Hunger der Armen, und zwar um der Gerechtigkeit willen!

Jede Erklärung, was Gerechtigkeit sei, erübrigt sich. Denn das Vermögen, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, ist eine dem Menschen von Natur innewohnende Gabe, genau wie die Gabe, Lust und Schmerz zu empfinden. Allerdings ist Lust- und Schmerzgefühl schon in der ersten Stunde des Lebens unterscheidbar, während das Gefühl für Recht und Unrecht erst herangebildet werden muß. Aber dies beweist nichts gegen seine Eigenschaft als instinktmäßige Anlage. Auch das Gehen, die Unterscheidung der Farben, die Sprache, das Urteil über schön und häßlich muß im Menschen entwickelt werden, und doch zweifelt niemand, daß es sich hier um lauter naturgegebene Fähigkeiten handelt. Das Wissen von Recht und Unrecht ist das soziale Bewußtsein im Menschen, ohne daß uns fremde Not gar nicht als eigene Angelegenheit berühren könnte. Wie aber Lust und Schmerz aus körperlichen oder seelischen Anlässen entstehen, die im Gegensatz zu den Gefühlen der Beeinflussung und Veränderung durch den menschlichen Willen unterliegen, so wird auch das soziale Bewußtsein durch menschliche Veranstaltungen oder Unterlassungen erregt. Der in unserer geistigen Wesenheit begründete Wille zur Gerechtigkeit wird befriedigt oder beleidigt, indem bestimmte Grundforderungen des sozialen Gewissens erfüllt oder enttäuscht werden. Die erste soziale Grundforderung ist Gleichberechtigung. Sie bedeutet Gerechtigkeit durch Gleichheit. Bedingung ihrer Verwirklichung ist jedoch die Verpflichtung der Gleichberechtigten auf Gegenseitigkeit. Der Kampf der Arten gegen einander – alles Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen beruht auf Tötung einer Art durch die andere und Umsetzung der Substanz der vernichteten Kreatur in Lebenskraft des Vernichters – dieser Kampf um die Erhaltung der Arten findet seine Ergänzung in der organisierten Unterstützung der Artgenossen zu Daseinskampf, Verteidigung und gesellschaftlicher Zuchtpflege. Wie weit Kameradschaftsbünde verschiedener Arten, beziehungsweise Substanzumwandlungen innerhalb gleicher Arten in der Natur vorkommen, ist in diesem Zusammenhange belanglos. Sicher ist indessen, daß von allen auf gesellschaftliches Zusammenwirken angewiesenen Geschöpfen allein der Mensch den Kampf planvoll auf die eigene Art ausgedehnt hat, und zwar nicht, wie das bei manchen Tieren und bei den Kannibalen geschieht, um Ernährungsschwierigkeiten zu beheben, sondern um ungleiches Recht in derselben Gattung zu schaffen und dadurch Machtgelüste zu befriedigen. Gegenseitige Hilfe ist ebenso Bestandteil der Gleichberechtigung, wie soziale Ungleichheit jede Gegenseitigkeitsbeziehung unmöglich macht.

Die kapitalistische Gesellschaft zerstört die soziale Gemeinschaft der Gegenseitigkeit und setzt an ihre Stelle die gegenseitige Unterstützung einer machthungrigen Minderheit bei der Entrechtung und Ausbeutung der in künstlicher Zersplitterung gehaltenen Gesamtheit der die gesellschaftlichen Werte schaffenden Kräfte. Wohl hat ein großer Teil des Proletariats erkannt, daß auch sein Heil nur in der Vereinigung zur gegenseitigen Hilfeleistung gesucht werden kann, doch greift sein Kampf bis jetzt in sehr geringem Maße über die Abwehr der schlimmsten Wirkungen der kapitalistischen Vergewaltigung hinaus, und sein Kampfziel beschränkt sich selbst da, wo die Verbindung schon unter sozialistischen und kommunistischen Losungen erfolgt ist, fast überall auf nur materielle Umgestaltung des Lebens. Der Angriff richtet sich ausschließlich gegen die Erscheinungsformen des Kapitalismus, gegen die Wirkungen der Besitzmacht auf die Lebenshaltung, die Gesundheit und die soziale Stellung der besitzlosen Klasse, aber, von verschwindenden Ausnahmen abgesehen, nirgends gegen die moralischen Grundsätze, die Werden, Wachsen und Wirken des Kapitalismus möglich gemacht haben und deren Beseitigung mit dem Sturz des Wirtschaftssystems zugleich erfolgen muß, soll der Geist der Gleichberechtigung und der gegenseitigen Hilfe, ohne den es keinen Sozialismus gibt, jemals lebendig werden.

Der kommunistische Anarchismus wendet seinen Kampf also zugleich gegen die wirtschaftliche Unterdrückung von Menschen durch Menschen wie gegen die Moral, die die Unterscheidung zwischen den Menschen für zulässig hält. Der Kapitalismus könnte nicht sein, könnte niemals geworden sein, wenn nicht dem Verzicht auf die Verfügung über die eigene Arbeitskraft, die das Wesen der wirtschaftlichen Verknechtung ist, der Verzicht auf die Selbstverantwortlichkeit der Menschen vorausgegangen wäre. Alle geschichtlichen Erklärungen, nach denen die kommunistisch wirtschaftenden Ackerbauer der Frühzeit zur Verteidigung des Bodens gegen Ueberfälle bewaffnete Männer aussonderten, welche sich allmählich kraft ihrer Ueberlegenheit durch den Waffengebrauch zu Herren des Landes machten und als bevorrechtigte Klasse den Arbeitsertrag ihrer Auftraggeber in persönlichen Reichtum verwandelten, sich zu Eigentümern des Grundes und Bodens aufwarfen und die Arbeitenden dadurch ihren Machtansprüchen hörig machten, – alle Erforschungen der Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus und der Klassenkämpfe sollen als wahr und richtig anerkannt werden. Sie beweisen nichts für das marxistische Dogma, daß das ökonomische Sein allein oder doch ausschließlich bestimmend das Handeln, Denken und Fühlen der Menschen beeinflusse. Der Ueberlassung des Waffenwerks an eine erwählte Schar muß vorausgegangen sein das Bewußtsein der Schwäche, der Verteidigung ebenso wie der Arbeit in der natürlichen Ursprünglichkeit völliger Gemeinschaft nicht mehr gewachsen zu sein.

Diese Minderung des Zutrauens in die gesellschaftliche Kraft der Verbundenheit ist aber ein seelisch-ethischer Vorgang, aus dem sich die Folgen auf die ökonomischen Verhältnisse erst ergeben. Das Bewußtsein bestimmt hier die Gestaltung des Seins. Kein Versuch, dem Schwinden des Selbstvertrauens wiederum ökonomische Ursachen zugrunde zu legen, käme gegen den Einwand auf, daß jede Gestaltung der Arbeitsleistung und Beziehungsregelung menschliche Veranstaltung ist, dem Tun aber notwendig das Denken, dem Denken die unbewußte Nervenbewegung vorausgeht, die das seelische Empfinden bezeichnet. Gemeinsame Lebensführung beruht auf gemeinsamer Verantwortung. Die Trennung der Gemeinsamkeit im gesellschaftlichen Wirken kann nur auf die Lockerung der gemeinschaftlichen Verantwortung zurückgehen. Ueberträgt die Gesamtheit einen der Dienste, deren Verrichtung den Einsatz aller Kräfte verlangt, einem Teil, so schaltet sie zugleich diesen Teil aus den übrigen Verrichtungen des gesellschaftlichen Dienstes aus, entläßt ihn somit aus der Verantwortung für die Sache der übrigen, wie sie sich selbst der Verantwortung für den übertragenen Dienst begibt. Innerhalb der wirtschaftlichen Arbeit ist selbstverständlich die Teilung der Dienste geboten, ebenso wie die Abwehr von Angriffen auf den Boden und die Arbeit den Kämpfern verschiedene Aufgaben zuweist. Der Grundsatz der Gemeinschaft wird dadurch nicht verletzt. Dem einen Volksteil aber die Arbeit überlassen, dem andern den Kampf aufhalsen heißt die Lebensführung der Gesellschaft auseinanderreißen, heißt die gemeinverbindliche Verantwortlichkeit preisgeben, heißt folglich Ungleichheit schaffen, die notwendig Herrschaft nach sich ziehen muß. Gemeinsame Verantwortlichkeit aller für alles, das ist der eigentliche Sinn des Kommunismus. Gemeinsame Verantwortlichkeit aller für alles bedeutet aber genau dasselbe wie Selbstverantwortlichkeit eines Jeden für das Ganze, und das ist der eigentliche Sinn des Anarchismus.

Damit ist die Frage der Wechselbeziehung von Gesellschaft und Persönlichkeit aufgeworfen. Der Marxismus will die soziale Gleichheit herstellen, indem er die Lebensformen des einzelnen Menschen in das Streckbett der für ökonomisch auswägbar gehaltenen Nutzzwecke der Gesamtheit zwingt. Der Individualismus will umgekehrt den ungekürzten Lebensraum des Individuums zum Maß der gesellschaftlichen Daseinsform machen, ohne Rücksicht auf Gleichheit und Gesamtnutzen. Beide Auffassungen nehmen also einen Gegensatz zwischen Gesellschaft und Mensch an und kommen nur bei der Abschätzung der Frage, wessen Rechtsanspruch ans Leben wichtiger sei, zu verschiedenen Ergebnissen. Der kommunistische Anarchismus lehnt die Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Persönlichkeit ab. Er betrachtet die Gesellschaft als Summe von Einzelmenschen und die Persönlichkeit als unlösliches Glied der Gesellschaft. Eine soziale Gleichheit, bei der der individuelle Betätigungsdrang des seines Eigenwertes bewußten Menschen beeinträchtigt ist, die sich mit der Beseitigung des Mehr oder Weniger in der Verfügung über die irdischen Güter begnügt, schafft allein nicht die gesellschaftliche Gleichheit, die die Forderung der Gerechtigkeit erfüllt, die Gleichheit, die auf Gegenseitigkeit in allen, nicht bloß den materiellen Dingen, und die auf dem Gefühl der verbundenen Verantwortung aller und der Selbstverantwortlichkeit jedes Einzelnen beruht.

Die Herstellung einer Gleichheit, die in Wahrheit die Bedeutung der Gleichberechtigung hat, ist nicht die einfache Lösung einer ökonomischen Rechenaufgabe. In der Erkenntnis, daß hier seine Schwäche liegt, flüchtet der Marxismus in die Gefilde der philosophischen Tröstungen und redet den Sozialisten den Gedanken der persönlichen Verantwortung im gesellschaftlichen Geschehen mit der alten Tempelweisheit der Gebundenheit des Willens und der Vorbestimmung alles Werdens und Waltens aus; einer Lehre, deren übersinnliche Verstiegenheit dadurch um nichts besser wird, daß sie anstelle der göttlichen Fügung den historischen Materialismus, also die Abhängigkeit des menschlichen Tuns von den jeweiligen Produktionsformen setzt. Die wirtschaftlichen Verhältnisse beeinflussen selbstverständlich die Entschließungen der Menschen, außer ihnen aber bilden noch eine Fülle anderer Gegebenheiten, die aus geographischen, biologischen, in Stamm und Ueberlieferung begründeten oder sonstigen Eigentümlichkeiten quellen, den seelischen Mischkessel, den wir Charakter nennen. Mag die Bewußtseinsbildung somit vielfachen sozialen Bedingungen unterliegen, die Persönlichkeit wird davon in ihrer Fähigkeit zur unmittelbaren Einwirkung auf das gesellschaftliche Sein und in ihrer Ermessensfreiheit nicht betroffen. Innerhalb eines Charakters ist der Wille frei.

Den Einzelwillen jedoch in die Mitte alles Geschehens zu stellen, ihm die Dinge der Gesamtheit unterzuordnen in dem Glauben, der Sinn der Gesellschaft erschöpfe sich in der Befriedigung der materiellen und geistigen Bedürfnisse der ihres einmaligen Ichs bewußten Persönlichkeit, bedeutet ebenfalls nichts als die Flucht aus der Wirklichkeit in die vorgestellte Welt einer sozial zusammenhanglosen Menschheit. Wie unteilbar aber die Einheit von Mensch und Menschheit ist und von jedem Menschen empfunden wird, erhellt, um ein einziges Beispiel zu nennen, aus dem Bestreben aller Menschen, Zeugnisse des individuellen Lebens über den Tod hinaus ins gesellschaftliche Leben zu verpflanzen. Für das Einzelwesen besteht die Welt nur, solange sie sich seinen Sinnen bemerkbar macht. Das Sterben, das mit dem Individuum sein ganzes Bewußtsein und alle persönliche Wahrnehmung auslöscht, wäre ohne die vollständige Verflechtung des persönlichen mit dem gesellschaftlichen Leben für den Einzelnen das Ende der Dinge überhaupt. Eine Gegenseitigkeitsbeziehung zwischen den Menschen auf Abruf kann es nicht geben. Der im Instinkt der Menschen begründete Drang, den schaffenden Eifer im Dienste der Menschheit zu betätigen, aus dem Eigenen die materiellen, geistigen und sittlichen Schätze der Gesamtheit zu mehren, wäre vollkommen sinnlos, wenn das Individuum ein lösbarer Teil des Ganzen wäre. Alle Regsamkeit der Persönlichkeit empfängt den Antrieb aus dem Bewußtsein der Gemeinsamkeit. Die Gesellschaft ist der Ursprung des Lebens, wie sie zugleich Sinn und Inhalt des Lebens ist. Da die Gesellschaft indessen sich zusammensetzt aus dem lebendigen gemeinsamen Sein der Einzelnen, sind ihre wirksamen Eigenschaften nicht unterschieden von denen der Menschen, der Tiere oder der Pflanzen, die miteinander Gesellschaft bilden, aus ihr geworden sind und sie unausgesetzt neu aus sich erzeugen.

Gesellschaft und Mensch ist demnach als einheitlicher Organismus zu begreifen, und jeder Fehler in der Wechselbeziehung der Menschen zu einander muß sich als gesellschaftlicher Schaden, jeder Mangel in der gesellschaftlichen Ordnung als Krankheitserscheinung im sozialen Getriebe und somit als Benachteiligung von Individuen in Erscheinung setzen. Diese Untrennbarkeit eines Ganzen von seinen Gliedern, dieses Ineinander-Verstricktsein der Teile, deren jedes ein Organismus mit den Eigenschaften des Ganzen ist, dieses Miteinander- und Durcheinander-Bestehen des Einzelnen und des Gesamten ist das Merkmal des organischen Seins in der Welt und jeder Verbindung in der Natur. Wie der Wald aus Bäumen besteht, deren jeder sein Eigenleben hat, mit eigenen Wurzeln im Erdreich steckt, sich selbst ernährt, lebensunfähig gewordene Aeste absterben läßt und neue Triebe entwickelt, im Welken der Blätter und Hervorbringen neuer Keime, im Ausstreuen des Samens und im allmählichen Verbrauchen der Lebenskraft jungem Nachwuchs Platz schafft, und wie in diesem Werden und Vergehen und in der wechselseitigen Kraftübertragung der einzelnen Bäume das Leben des Waldes als Zusammenfassung zu einem Ganzen wiederum völlig den Charakter eines lebenden, sterbenden, sich stets von neuem schaffenden individuellen Wesens erhält, so ist jede Gemeinschaft ein Organismus aus Organismen, ein Bund von Bünden, eine zur Einheit gewordene Vielheit von Einheiten. Der kommunistische Anarchismus will diese natürliche Verbindung von Persönlichkeit und Gesellschaft mit Gleichberechtigung, gegenseitiger Unterstützung und Selbstverantwortlichkeit aller Einzelnen im Bewußtsein der Gesamtverbindlichkeit und gemeinsamen Verantwortung fürs Ganze wieder zur Lebensform auch der Menschheit werden lassen. Dazu erforderlich ist aber die vollständige Neugestaltung der Organisationsgrundsätze im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verkehr.

Solche auf natürlichen Zusammenschluß der Teile zum Ganzen und auf die Kraft des Ganzen als Lebensquelle der Teile gestützte Vereinigung stellt die Organisationsform des Föderalismus dar im Gegensatz zum Zentralismus, der die künstliche Organisationsform der Macht und des Staates ist, wie sie der Kapitalismus bis zur restlosen Vernichtung der Persönlichkeit, der Gleichheit, der Selbstbestimmung, der Selbstverantwortung und der Gegenseitigkeitsbeziehung emporgezüchtet hat. Föderalismus verhält sich zu Zentralismus wie Organismus zu Mechanismus, das heißt wie Gewachsenes, Naturgewordenes, Wesenhaftes zu Geknetetem, Zusammengebasteltem, Nachgemachtem. Föderalismus ist Gemeinschaft der lebendigen Teile zum Gefüge eines lebendigen Ganzen, Zentralismus ist Aneinanderkettung der Teile zur willenlosen Lenkung durch ein unbeseeltes Triebwerk. Im Föderalismus wirkt die Uebereinkunft der Individuen, ihren unterschiedlos auf den eigenen wie auf den Gesamtvorteil gerichteten Willen zur vernünftigen Herstellung des Bedarfs, zu seiner vernünftigen Verteilung und Verwendung und zur gerechten Gestaltung aller übrigen Lebensbeziehungen zu verbinden; im Zentralismus wirkt das von außen gegebene Gesetz der jeweiligen Macht, welche die Vorrichtungen zur Niederhaltung des Gemeinschaftswillens in den Händen hält. Der Föderalismus baut den Gemeinschaftskörper von unten auf, indem er die schaffenden Kräfte selber in unmittelbarer Verständigung die Maßnahmen treffen läßt, von denen das Wohl der Einzelnen und das Gemeinwohl abhängt und die die Bürgschaft gewähren, daß das Gemeinwohl das Wohl des Einzelnen in sich schließt. Der Zentralismus bewegt die nur äußerlich zusammengebundenen, aber aus keiner inneren Notwendigkeit einander vertrauten Einzelnen von oben her, indem er den Persönlichkeitswillen lähmt und ihm die Leitung durch einen gemeinschaftsfremden, der Prüfung entzogenen Willen aufzwingt. Föderalismus ist Organisation durch natürliche Ordnung; Zentralismus ist Ersatz der Ordnung durch Ueberordnung und Anordnung. Die föderalistische Organisation entspricht den Forderungen der Gerechtigkeit, der Gegenseitigkeit, der Gleichheit, der gemeinsamen Selbstverantwortung, der Gemeinschaft aus Einzelnen. Die zentralistische Organisation entspricht den Bedürfnissen der Macht, der Obrigkeit, der Ausbeutung, des Klassenzwiespalts, der Bevorzugten. Föderalismus ist Ausdruck der Gesellschaft; Zentralismus ist Ausdruck des Staates.

Staat und Gesellschaft nämlich ist zweierlei. Weder ist die Gesellschaft eine Zusammenballung aller verschiedenen Organisationen und Verbindungen, innerhalb deren die Menschen ihre gemeinschaftlichen Angelegenheiten ordnen und unter denen der Staat neben anderen Einrichtungsformen besteht, noch ist der Staat von etlichen Möglichkeiten eine der Organisationsarten, in denen sich die Gesellschaft verkörpern kann. Es ist in aller Eindeutigkeit so, daß wo Gesellschaft besteht, für den Staat kein Raum ist, wo aber der Staat ist, er als Pfahl im Fleische der Gesellschaft steckt, ihr nicht erlaubt, Volk zu bilden und gemeinschaftlich ein- und auszuatmen, sie statt dessen in Klassen trennt und dadurch verhindert, Gesellschaft zu sein. Ein zentralisiertes Gebilde kann nicht zugleich ein föderalistisches Gebilde sein. Ein obrigkeitlich zugerichtetes Verwaltungswesen ist Regierung, Bürokratie, Befehlsgewalt, und dies ist das Merkmal des Staates; eine auf Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit aufgebaute Gemeinschaft ist in den Grenzen der räumlichen Verbundenheit der Menschen Volk, als allgemeine Lebensform der Menschheit betrachtet, Gesellschaft. Staat und Gesellschaft sind gegensätzliche Begriffe; eins schließt das andere aus.

Vom Klassenstaat reden, heißt von hölzernem Holz reden. Staat ist nichts anderes, kann nichts anderes sein als zentralisierter Ausführungsdienst einer vom Volk gelösten Klasse zur Beherrschung des entrechteten und zur beherrschten Klasse erniedrigten Volkes. Das staatliche Verwaltungsverfahren teilt also die menschliche Gesellschaft in Gesellschaftsklassen, indem es Grund und Boden nebst den von Menschen geschaffenen Produktionsmitteln als Eigentum der bevorzugten Klasse schützt, die Zulassung zur Benutzung des Eigentums durch die fast die Gesamtheit umfassende Klasse der Besitzlosen nach den Grundsätzen der Unantastbarkeit des Eigentumvorrechts und der Wahrung des Charakters der Arbeitsleistung als Verdingung der Arbeitskraft regelt. Ausschließlich zu diesem Zweck ist der Staat geschaffen, niemals hat er einem andern Zweck gedient, niemals könnte er anderen Zwecken nutzbar werden. Nur wo Herrenrecht gegen Sklavenrecht steht, hat der Staat Sinn, findet er Aufgaben der Betätigung. Erst mit dem Entstehen persönlichen Eigentums zur Ausbeutung von Menschen konnte der Staat werden, ist er geworden. Mit der Entfaltung des Kapitalismus, der die materiellen Ausbeutungsgrundsätze der Eigentümer zum Mittelpunkt des gesamten Lebens der Menschen machte, vergrößerte und vergröberte der Staat beständig das Netz von Gesetzen, Aufsichts- und Zwangsmaßregeln, durch welche das Proletariat in der Hörigkeit der bevorrechtigten Klasse gehalten werden soll. Wieder aber sind es die marxistischen Sozialisten, welche nebst der materialistischen Weltbetrachtung auch die zentralistische Organisationsform, dieses eigentliche Wesensmerkmal des kapitalistischen Staates, als Grundriß für den Aufbau der vom Kapitalismus befreiten Gesellschaft übernehmen wollen.

Es ist dargelegt worden, daß die allgemeinen Verhältnisse das Verhalten der Menschen bestimmen, daß hingegen diese Verhältnisse zum erheblichen Teil aus willensgelenkten Veranstaltungen der Menschen selbst entstehen, somit auch das Verhalten die Verhältnisse schafft. Allgemein kann gelten, daß gleichartige Verhältnisse gleichartiges Verhalten zur Folge haben, gleichartiges Verhalten also ebenso gleichartige Verhältnisse bewirkt. Hat der Kapitalismus zur Kräftigung seiner Herrschaft über die Menschen eine zentralisierte Staatsverwaltung eingerichtet, die bei steter Steigerung des obrigkeitlichen Drucks die Macht des Kapitals dauernd vermehrt hat und rückwirkend eine ständige Erweiterung der staatlichen Befugnisse zum Schaden der Arbeiter und zum Nutzen der Bevorrechtigten verursachte, so bedeutet das, daß der von oben geleitete Staat die allein geeignete Organisationsform zur Erhaltung und Förderung kapitalistischer Wirtschaftsführung ist; zugleich aber bedeutet es, daß nur kapitalistische Verhältnisse mit dem staatlichen Zentralismus im Sinne der beabsichtigten Wirkung schalten können, und daß ferner jede staatliche Zentralmacht Kapitalismus entwickeln und, wo er etwa nicht oder nicht mehr vorhanden ist, neu erzeugen muß. Wenn daher gewisse Auslegungen der marxistischen Lehre davon überzeugen wollen, daß das Wesen des Kapitalismus durch die Verfügung privater Ausbeuter über die Produktionsmittel bedingt sei, ihre Bewirtschaftung durch den Staat jedoch bereits als Kennzeichen des Sozialismus gedeutet werden dürfe, so kann nicht heftig genug gegen eine solche Verfälschung und Umkehrung des sozialistischen Grundgedankens Einspruch erhoben werden. Staatskapitalismus, auch wenn man ihn Staatssozialismus nennen will, hat mit wirklichem Sozialismus nicht das allergeringste zu tun, ist im Gegenteil die dem Gemeinschafts-, Gegenseitigkeits- und Selbstverantwortungsgeist, ohne den kein Sozialismus sein kann, feindlichste Form der kapitalistischen Verknechtung.

Dabei ist es völlig gleichgültig, ob der Staat vom Proletariat erobert wird, um ihn in allmählicher Umgestaltung für sozialistische Lebensbedingungen herzurichten, oder ob man anstelle des durch Revolution zerstörten privatkapitalistischen Staates einen anderen schafft, in dem von vornherein Staatsgewalten die Obliegenheiten des Nutznießers der der eigenen Verfügung und Auswertung entzogenen Arbeitskraft der werktätigen Menschen versehen. Auch das Zugeständnis an die natürliche Einsicht der Sozialisten, die die Unvereinbarkeit von Staat und gesellschaftlicher Gleichheit erkennen, ist wertlos, wonach der mit dem Streben zu sozialistischen Wirtschaftsformen regierte Staat die Eigenschaft habe, mit dem Hinschwinden des Kapitalismus sich selbst überflüssig zu machen, abzusterben und einer Gesellschaft föderativ verbundener Gleichberechtigter den Weg zur Vollendung des Sozialismus freizumachen. Ein Staat stirbt nicht ab, sondern festigt sich, indem er die Grundlagen, auf denen er ruht, ausbaut. Die Grundlagen des Staates sind die kapitalistischen Klassenverhältnisse, und es macht keinen Unterschied, ob die Klassengegensätze aus der Privatverfügung Weniger über die Erde und die Arbeitsmittel stammen oder durch die Uebertragung derselben Verfügung auf eine Auslese staatlicher Befehlshaber herbeigeführt werden. Mag es immerhin moralisch befriedigender sein, die Ausbeutungsrechte nicht in den Händen persönlicher Habgier zu wissen, – es kommt darauf an, daß alle Ausbeutung ausgetilgt, nicht darauf, daß sie entpersönlicht wird. Für den schaffenden Menschen ist es ohne Bedeutung, ob seine Leistung einer Aktiengesellschaft zugute kommt, die den Nutzen daraus in Form von Gewinnanteilen Leuten zuführt, welche mit der Arbeit selbst gar keine Berührung haben, häufig nicht einmal wissen, was in dem Werk, dessen Mitinhaber sie sind, überhaupt hergestellt wird, – oder ob der Staat seinen Arbeitsertrag einzieht. Die Wirkung ist für ihn ganz gleich: das Erzeugnis seiner Arbeit gehört nicht ihm, es ist seiner Verfügung entzogen, und sein Vorteil liegt überhaupt nicht darin, daß das Erzeugnis da ist, sondern nur darin, daß er für die Herstellung Lohn erhält. Am Lohnsystem ändert sich durch die Ueberführung des Privatkapitalismus in Staatskapitalismus nicht das geringste, das Lohnsystem aber ist das Kennzeichen der Ausbeutung.

Die Behauptung, durch die Beschlagnahme der Arbeitskraft von Staatswegen werde, wenn auch die Wirtschaftsweise ausbeuterischen Charakter zu tragen scheine, die sozialistische Ordnung auf die Weise hergestellt, daß das Arbeitserzeugnis Gemeinschaftszwecken diene, fälscht den Grundgedanken des Sozialismus. Abgesehen von dem Anspruch der Kapitalisten, auch ihrerseits Werte erarbeiten zu lassen, die dem allgemeinen Bedarf angepaßt sind, und den Ueberschuß zum größten Teil wiederum in bedarfsteigernde Produktion umzusetzen, fehlt hier wie dort die Selbstbestimmung der Arbeiter über die Verwendung ihrer Leistung. Damit entfällt zugleich die Berechtigung des Einwands, daß kapitalistische Arbeit, gleichviel ob eine Privatperson oder der Staat Auftraggeber sei, jemals dem gesellschaftlichen Nutzen untergeordnet wäre. Denn wo immer die Zuständigkeit von Auftraggeber und Beauftragten getrennt ist, kann von keinem gemeinschaftlichen Nutzen die Rede sein. Es trifft für den Staat in noch höherem Maße als für den privaten Unternehmer zu, daß in allen seinen Maßnahmen, zumal bei der Zuteilung von Arbeitsaufträgen, die Festigung seiner Stellung als Verfügungsmacht über die Arbeitsmittel leitender Beweggrund ist. Die Versorgung des Marktes mit lebensnotwendigem Bedarf ist in jeder Art Kapitalswirtschaft nur insoweit bestimmend, wie sie zur Stärkung dieser Machtstellung beiträgt. Wo das Vorrecht der Verfügung mit dem Bedürfnis des Volks in Widerspruch gerät, ist in allen Fällen, ohne Unterschied zwischen Privat- und Staatskapitalismus, die Versorgung der Gesamtheit benachteiligt.

Das Vorrecht muß also beseitigt werden. Es kann nur beseitigt werden, indem an die Stelle der Arbeitsregelung von oben die Selbstverwaltung der arbeitenden Menschen tritt. Selbstverwaltung ist nichts anderes als Selbstverantwortung Gleicher auf Gegenseitigkeit, nichts anderes als föderative Organisation anstelle zentralistischer. In welcher Weise die föderative Arbeits- und Verteilungsorganisation der kommunistischen Anarchie durch das Rätewesen, die einzig vorstellbare Form der wirtschaftlichen Selbstverwaltung, zu verwirklichen sein wird, soll im zweiten Abschnitt gezeigt werden. Hier genügt die Aufstellung des allgemeingültigen Satzes: eine Gesellschaft, in welcher die Beziehungen von Arbeit und Verbrauch, der Menschen untereinander und des gesamten geistigen und materiellen Verkehrs unter Wahrung der Gleichberechtigung, Selbstverantwortlichkeit aller und gegenseitigen Unterstützung geregelt werden sollen, verlangt für alle Verrichtungen föderalistische Verwaltung, das ist unmittelbare Verständigung der Beteiligten untereinander. Zentrale Verbindungsstellen dienen einzig den Zwecken der Buchhaltung und der Uebermittlung von Aufträgen, niemals solchen der selbständigen Amtsausübung und irgendwelcher vorgesetzten Behörde, deren vollständige Ausmerzung Voraussetzung aller Selbstverwaltung ist.

Der Versuch, mittels eines Uebergangsstaates vom Kapitalismus zum Sozialismus zu gelangen, ist durch das Wesen des Staates als anordnende Zentralgewalt zum Scheitern verurteilt. Die staatliche Ordnung beruht auf dem Verfahren der Uebertragung der öffentlichen Dienste auf eigens zu diesem Zweck aus der Gesamtheit ausgesonderte Beamte. Wollte nach dem Sturz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung der Sozialismus seine Daseinsformen nach demselben Verfahren einrichten, so würde sich die Wiederholung des Vorgangs ergeben, der bei der Teilung der gesellschaftlichen Obliegenheiten in Landbebauung und Landverteidigung die Unterdrückung der werktätigen durch die waffentätigen Menschen, damit die Klassenschichtung des Volkes und folgerichtig die Enteignung der Gesamtheit durch die starkgemachte Minderheit, die Ausbeutung, den Kapitalismus herbeiführte. Die vom Ganzen losgelöste Verwaltung müßte, genau wie die Waffenführer der Frühzeit sich als Adel selbständig machten und das Volk, das sich ihnen anvertraut hatte, in ein Lehnsverhältnis zwangen, in kürzester Zeit Selbstzweck werden. Selbst unter den gegenwärtigen Zuständen, wo die Beamtenschaft sich in völliger Abhängigkeit von der viel stärkeren Macht der Eigentümer des Landes und der produzierenden Mittel befindet, strebt der Staat in eifriger Anstrengung danach, den Wettstreit der Kapitalisten mit obrigkeitlichen Eingriffen in verwaltungsrechtliche Bindungen zu bringen, während die Kapitalisten sich im Gegenteil über die Ländergrenzen hinweg föderativ vereinigen, sich demgemäß aus den zentralistischen Staatseinengungen zu befreien suchen und die gesetzgebenden und ausführenden Sachwalter des Staates, mit je mehr Vollmachten sie sie zur Niederhaltung der arbeitenden Klasse versehen, umso entschlossener darauf bestehen, daß sie sich auf die Ausübung der Justiz, Polizei und Abgabeneintreibung sowie auf die Sicherung der eigenen Herrschaft über das nichtbesitzende Volk beschränken. Die Enteignung des Privatkapitals zugunsten des Staates würde den Ertrag der Arbeit zwar in andere Kanäle leiten, aber nicht die Abhängigkeit der Arbeitskräfte von ausbeutenden Gewalten mindern, sondern nur die Abhängigkeit des Staates von anderen als seinen eigenen Machtbedürfnissen aufheben. Die Staatsverwaltung, die Beamtenschaft, der regierende Apparat würde sich immer ungeheurer aufblähen und wie jede Herrschaft die Neigung hat, sich zur unabsetzbaren und unablösbaren Dauermacht zu entwickeln, alle Tätigkeit mit erzieherischen und gewaltsamen Mitteln auf das Ziel richten, das Wohl der Obrigkeit als das wahre Wohl der Gesamtheit erscheinen zu lassen. Am Ende dieses Weges steht die Erblichkeit der Bürokratie, die die Zurückführung der Ausbeutung in den Nutzen einer Oberklasse notwendig mit sich führt, also die restlose Wiederherstellung des Privatkapitalismus mit bloß ausgewechselten Eigentümergruppen und veränderter Ausdrucksweise zur Täuschung der Massen.

Der Marxismus vertritt im Staat und in den eigenen Organisationen den Standpunkt des starrsten Zentralismus. Er bekämpft die Obrigkeit des Gegenwartsstaates, nicht weil sie das Volk in seiner Selbstbestimmung entrechtet, sondern weil sie die Unterdrückung nicht auf die herrschende Klasse ausdehnt. Wir sehen also diesen Tatbestand: Der Kapitalismus hat den Staat nötig zu dem einzigen Zweck, zu dem er sich eignet, selbständige Entscheidungen der arbeitenden Menschen in ihren eigenen Angelegenheiten zu unterbinden; er hat ihn hierzu mit außerordentlich weitreichenden Vollmachten ausgestattet. Die Staatsgesetze dienen dem Schutz der kapitalistischen Einrichtungen und sind so gehalten, daß sie der Form nach für die Angehörigen beider Gesellschaftsklassen verpflichtend sind. Mit der Entwicklung des individualistischen Kapitalismus zu körperschaftlichen, über die Staatsgrenzen hinauswachsenden Ausbeutungsverbindungen haben sich die staatlichen Einheitsbestimmungen für die Angehörigen der besitzenden Klasse allmählich als zu eng erwiesen; sie streben daher für sich die Lockerung der Staatsbefugnisse an, zur besseren Beherrschung der mit der Vervollkommnung der Technik immer bedrängteren Klasse der Besitzlosen ihre noch straffere Gestaltung. Der Staat ist natürlich mit der Vermehrung seiner Macht über die Mehrheit zufrieden, wehrt sich aber seiner Machtminderung bei der Wahrung der eigentlichen Vorteile der herrschenden Klasse, solange nicht das gesamte Staatsgefüge nach dem Bedürfnis des international und körperschaftlich ausgebauten Kapitalismus umgewandelt ist (diese Umwandlung ergibt das Bild des faschistischen Staates). Die zentralistischen Sozialisten aber stellen sich auf die Seite des Staates in seinem Bemühen, sich nichts von seiner Allmacht wegnehmen zu lassen, greifen ihn aber an, weil er – und hier bestimmt, da es sich um einen Musterfall kapitalistischer Erscheinungen handelt, wirklich das ökonomische Sein das Bewußtsein – vor den Ansprüchen der besitzenden Klasse trotzdem Schritt für Schritt zurückweicht, und glauben, die rücksichtslose Machtentfaltung der Obrigkeit gegenüber der Armut habe seinen Grund in der Schwäche des Staates gegenüber dem Reichtum, nicht aber im Wesen der staatlichen Obrigkeit selbst. Sie wenden sich gegen die Obrigkeit nicht, weil sie Obrigkeit ist, sondern weil sie eine andere Obrigkeit wollen, gebildet von Leuten ihrer Meinung, von Leuten, die sich als Führer ihrer Parteien oder Gewerkschaften gewöhnt haben, zentralistisch zu regieren, Vorschriften zu erlassen, Zucht und Gehorsam zu fordern, sich Menschen zu unterwerfen und sie zugleich glauben zu machen, sie würden zu ihrem eigenen Nutzen, nicht zu dem der Regierer, regiert. An Obrigkeit und Drill, an zentrale Lenkung und Abgabe des Willens an übergeordnete Personen gewöhnt, zu Staatsglauben und Führervertrauen erzogen, werden die Staatssozialisten dem Staatskapitalismus erwünschte Staatsbürger sein. Nur wird dieser Staatskapitalismus aller Eigenschaften des Sozialismus ermangeln, der Gleichheit und der Gerechtigkeit, der Selbstverantwortlichkeit und der gegenseitigen Förderung, der Verbundenheit der Menschen untereinander und der Selbstverwaltung im gesellschaftlichen Zusammenwirken. Eine allmächtige Bürokratie wird von oben her jede selbständige Regung der Menschen unterdrücken und Ausdruck sein eines Staates, der so wenig Aehnlichkeit mit einer echten Gesellschaft hat wie alle früheren Staatsgebilde und der alle Keime einer klassengespaltenen Ausbeuterwirtschaft von Anbeginn in sich trägt.

Was nämlich den Staat zum Staate macht und was einen Staat dem andern bei allen übrigen Unterscheidungen gleichwertig an die Seite stellt, bleibt auch jedem Sozialistenstaat erhalten: der Ersatz der unmittelbaren Verbindung der Menschen untereinander durch die Ueberantwortung von Macht an Menschen zur Beherrschung von Menschen. Die Verneinung der Macht in der gesellschaftlichen Organisation ist das maßgebliche Wesensmerkmal der Anarchie, oder, um dieser verneinenden Erklärung die bejahende Form zu geben: der Anarchismus kämpft anstatt für irgendeine Form der Macht für die gesellschaftlich organisierte Selbstverfügung und Selbstentschließung der Menschen. Unter Macht ist jede Inanspruchnahme oder Einräumung von Hoheitsbefugnissen zu verstehen, durch die die Menschen in regierende und regierte Gruppen getrennt werden. Hierbei spielt die Regierungsform nicht die geringste Rolle. Monarchie, Demokratie, Diktatur stellen als Staatsarten nur verschiedene Möglichkeiten im Verfahren der zentralistischen Menschenbeherrschung dar. Wenn die Demokratie sich darauf beruft, daß sie dem Volksganzen die Beteiligung an der öffentlichen Verwaltung mit gleichem Stimmrecht für alle gewährt, so ist daran zu erinnern, daß gleiches Stimmrecht nichts mit gleichem Recht zu tun hat und daß die Aussonderung von Abgeordneten eben die Beteiligung der Aussondernden an der Verwaltung verhindert und ihre Vertretung durch einander ablösende Machthaber bedeutet. Wo es Vorrechte des Besitzes gibt, kann kein formales Gleichsetzen von Stimmen wirkliche Gleichheit schaffen, ebensowenig wo die Selbstbestimmung der Menschen sich durch Verleihung von Macht ablösen läßt. Macht beruht immer auf wirtschaftlicher Ueberlegenheit, und die Abschaffung wirtschaftlicher Ueberlegenheit bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung von Macht bewirkt unter allen Umständen das Bestreben derer, die über die Macht verfügen, sie durch Neugewinnung wirtschaftlicher Ueberlegenheit zu sichern. Jeder auch nur zeitweilige Gesetzgeber, sei er Landesoberster, Minister oder Parlamentarier, fühlt sich über diejenigen, denen er Vorschriften machen darf, emporgehoben, wird also, auch wenn er es vorher nicht war, Sachwalter einer vom Ganzen gelösten Oberschicht mit anderen, gesteigerten Bedürfnissen und Lebenszielen, hört auf, der Klasse anzugehören, die sich nach den Gesetzen und Vorschriften zu richten hat. Das zeigt sich schon bei den zentralistisch organisierten Arbeitervereinigungen. Hier wird eine beamtete Führerschaft mit dem Vorrecht ausgestattet, die Richtlinien für das Verhalten und die Verpflichtungen der übrigen zu bestimmen, es entsteht Befehlsgewalt, Obrigkeit, Macht. Dadurch entsteht weiterhin eine grundsätzliche Scheidung der Interessen mit der Folge, daß der Kopf der Organisation ein Eigenleben gegenüber den Gliedern führt und daß die Verwaltung der Organisation Selbstzweck wird und stets seine Bedürfnisse wichtiger nimmt als die Aufgaben, derentwegen die Organisation geschaffen wurde.

Es liegt im Wesen der Macht, nicht nur ihre Erhaltung mit allen Mitteln zu verteidigen, sondern sich materiell und ideell immer stärker zu machen, ja, ihre Ausdehnung und Kräftigung als einzigen Inhalt allen ihrer Handlungen zugrunde zu legen. Menschen und gesellschaftlich lebenden Tieren ist das Machtstreben nicht angeboren. Erst jahrtausendelange Gewöhnung an Vorrecht und Entrechtung hat die Menschen, nur sie, zu dem Glauben gebracht, es sei in ihrer Natur bedingt, daß der Wettstreit um den Platz an der Sonnenseite des Daseins in der Form von Machtkämpfen geführt werden müsse. Gerade aber erst die Machtkämpfe haben mit der Spaltung des Menschengeschlechts in Herrschende und Beherrschte verursacht, daß es eine Sonnenseite und eine Schattenseite des Lebens gibt. Macht kann nicht sein, wo keine Ohnmacht ist. Wer nach Macht strebt, kann sein Ziel nur erreichen, indem er andere ohnmächtig macht. Die größte und umfassendste Macht der bisher erlebten Geschichte ist die vom Kapitalismus entwickelte Macht. Zweck der halt- und grenzenlosen Kapitalshäufung ist jedoch keineswegs dem Kapitalisten bloß ein Wohlleben zu verschaffen. Seine Absicht, in Reichtum zu leben und Aufwand zu treiben, läßt sich erreichen, ohne daß Milliardenwerte, ungeheure Ländereien, Bergwerke, ganze Industrieausbeuten unter die Verfügung eines Einzelnen zu gelangen brauchten. Der Großkapitalist rafft seine Güter durchaus nicht zusammen, um sich ein bequemes Leben zu schaffen; er verwendet im Gegenteil außerordentlich mühevolle Tätigkeit auf die Erhaltung, Vermehrung und Vervielfältigung seines Kapitals, obwohl er weiß, daß sich durch die Ausdehnung seines Eigentums an seiner Lebensführung gar nichts ändern wird und obwohl jede Vergrößerung seines Reichtums größere Anforderung an seine organisatorische Spannkraft stellt.

Der Kapitalist weiß sogar, daß bei gerechter und natürlicher Bewirtschaftung der Erde im Sozialismus, bei gleicher Berücksichtigung aller in der Regelung des Verbrauchs, für niemanden, also auch für ihn nicht, eine Verarmung im Sinne von Mangel an Gütern und Freuden eintreten würde. Denn der Boden trägt, wenn er sozialistisch gepflegt wird, genügend, um guten Wohlstand für alle Menschen zu verbürgen, und wir kämpfen für die kommunistische Anarchie nicht, um den Reichtum, sondern um die Armut abzuschaffen. Der Kapitalist macht sich reich, um andere arm zu machen. Sein Antrieb zur Kapitalanhäufung ist nicht Habsucht, sondern Machtgier. Je mehr Menschen er durch seinen Reichtum in Armut treibt, umso mehr Menschen macht er sich hörig. Je ärmer jemand ist, umso abhängiger ist er, je abhängiger er ist, umso besser kann er beherrscht werden. Darum bleibt es sich auch für den arbeitenden Menschen ganz gleich, ob seine Arbeitskraft von einem Privatmann oder einer Ausbeutergesellschaft gedungen wird oder vom Staat. Dadurch, daß ihm der Ertrag seiner Leistung vorenthalten bleibt, wird Macht geschaffen, von der er abhängig ist. Die Staatsmacht braucht seine Armut genau so wie der Private, um durch sie Macht auszuüben. Die Macht des Staates ist aber gefährlicher als jede andere Macht, weil sie mit dem Anspruch auftritt, Ausdruck des allgemeinen Willens zu sein und die von ihr der Arbeit abgenommenen Reichtümer dem allgemeinen Nutzen zuzuführen. In Wahrheit dienen diese Reichtümer ausschließlich der Erhaltung des Staates selbst, das heißt der Macht der Obrigkeit, die die Ohnmacht der Regierten braucht.

In der Erkenntnis, daß Macht, gleichviel wer sie ausübt, gleichviel zu welchem vorgegebenen oder wirklichen Zweck sie begründet wurde, Ausbeutung in sich trägt, ferner daß Staat und Zentralisation, gleichviel, welche sozialen Ziele sie sich gesetzt haben, Einrichtungen der Macht sind und also Ausbeutung betreiben müssen, stellt sich der Anarchismus die Aufgabe, die Macht als Form des gesellschaftlichen Lebens, demnach jede Art Staat von Grund aus zu zerstören und statt dessen die föderative Gemeinschaft Gleichberechtigter aufzubauen. Der oft erhobene Einwand, die Zerstörung der Macht setze durch ihre Vollzugsmittel doch wieder Machtanwendung voraus, beruht auf unklarem Denken. Die Worte Macht, Zwang und Gewalt bezeichnen nämlich völlig verschiedene Begriffe, deren Gleichsetzung und Verwechslung selbst schon in den Reihen der Anarchisten verheerende Irrtümer hervorgerufen hat. Gewalt ist ein Kampfmittel, daß sich von andern Kampfmitteln wie Ueberredung, Ueberlistung, passiven Widerstand usw. gar nicht grundsätzlich unterscheidet. Die Behauptung, der anarchistische Gedanke sei unvereinbar gerade mit dem Kampf, der die Anwendung körperlicher Kraft oder ihre mechanische Verstärkung durch Waffengebrauch vorsehe, ist eine willkürliche Verfälschung des anarchistischen Gedankens. Wem Gewalt im Kampfe unangenehm ist, mag sie vermeiden, mit Anarchismus hat solche persönliche Geschmacksrichtung nichts zu tun. Da der Anarchismus den Kampf bejaht, kann er nicht eine Abstufung zwischen den äußeren Kampfformen vornehmen und eine Grenze ziehen, jenseits deren der Kampf verneint wird. Auch die Anwendung von Zwang ist nicht allgemein im Widerspruch zu anarchistischem Verhalten. Ein im Kampf bezwungener Gegner muß selbstverständlich verhindert werden, den Kampf weiterzuführen. Ein sozialer Schädling muß genötigt werden, sich in die Notwendigkeit der gemeinsamen Lebensgestaltung einzufügen. Solche Verhinderung und Nötigung ist Zwang. Unzulässig im Sinne anarchistischer Auffassung werden Gewalt und Zwang erst, wenn sie im Dienste einer Befehlshoheit stehen, und daraus erklärt sich eben die oberflächliche Gleichsetzung der drei Begriffe, daß der Staat kraft seiner Macht den Alleingebrauch von Zwang und Gewalt für sich in Anspruch nimmt. Der Anarchismus ist gegen Staatsgewalt und Staatszwang, weil er gegen Staatsmacht ist. Um der Sauberkeit des Denkens willen muß aber unterschieden werden: Gewalt ist Kampfhandlung, bloßes Mittel zur Erreichung eines Zwecks; Zwang ist Maßregel im Kampf und Mittel zur Sicherung des erreichten Kampfzweckes, Macht ist ein Dauerzustand von Gewalt und Zwang zur Niederhaltung von Gleichheitsgelüsten, ist das von oben her verfügte Zwangs- und Gewaltmonopol der Herrschaft.

Macht bezeichnet somit die tatsächliche Gegebenheit, die aus jedem zentralistischen, obrigkeitlichen, gesetzgebundenen, staatlichen Verhältnis erwächst. Als sittlicher Grundlage ihrer Herrschbefugnisse bedient sie sich des den Menschen eingeimpften Glaubens an die Berechtigung und Notwendigkeit der Autorität. Autorität ist die Maßgeblichkeit fremder Erkenntnis für das eigene Urteil. Der Anspruch auf Autorität bedeutet also die Forderung, daß Menschen auf eine Meinung verzichten sollen, an deren Stelle die blinde Anerkennung fertig gelieferter Gedanken, Regeln und Grundsätze zu treten hat. Die Hinnahme von Autorität bedeutet demgemäß Preisgabe der Denkkraft und des Willens, Unterordnung der Persönlichkeit unter von außen zugetragene Glaubenssätze und Vorschriften. Es ist ohne weiteres klar, daß Macht nicht ertragen würde, wäre der menschliche Geist nicht zuvor der Einwirkung der Autorität zugänglich gemacht worden. Wo Autorität Eingang hat, kann sich Macht festsetzen; wo Macht waltet, schafft sie der Autorität immer neue Zugänge. Seit Menschen andern Menschen Macht über sich eingeräumt haben und dadurch Machthunger sich zum wichtigsten Gestalter gesellschaftlicher Beziehungen zwischen den Menschen entwickeln konnte – im Machtgelüst liegt das hervorstechendste Unterscheidungsmerkmal des Menschen gegenüber den Tieren, bei denen das natürliche Gesellschaftsdasein nirgends von Machtverhältnissen innerhalb der gleichen Gattung verdrängt werden konnte –, seit den Anfängen der Heranbildung von Vorrechten unter den Menschen ist zu allen Zeiten der Glaube an Autorität bei denen großgezüchtet worden, die ein Machtwille sich zur Beherrschung ausersehen hatte. Denn Autorität gründet sich auf seelische Beeinflussung, auf Zubereitung des Geistes, Glauben und Vertrauen auf Kosten von Denken und Urteilen gelten zu lassen. Wer so weit gebracht ist, zu glauben ohne zu prüfen, und sei es selbst das Unmögliche und Vernunftwidrige, der wird auch bereit sein, zu gehorchen ohne sich aufzulehnen, selbst wo das Zweckwidrigste und seinem Vorteil Entgegengesetzte von ihm verlangt wird.

Der älteste und bis heute bewährteste Weg, Autoritätsglauben zu erwecken, ist die Vortäuschung überirdischer, göttlicher Mächte, deren Gebot der Mensch willfährig, deren Urteil er verantwortlich zu sein hat. Das ursprüngliche Gefühl von Recht und Unrecht ließe keinen Angriff auf die menschliche Selbstbestimmung zu. Das Bewußtsein, daß nur Gleichheit und Gegenseitigkeit wirkliches gesellschaftliches Recht ermöglicht, schlösse jede Machtbetätigung von Menschen über Menschen aus. Dem unverbildeten Gemüt des naturverbundenen Menschen konnte der Sinn für Obrigkeitsvorrecht und Untertanenverpflichtung daher nicht anders beigebracht werden als durch die Vorstellung, außerweltliche, himmlische Wesen seien die Schöpfer und Lenker aller Dinge, ihnen, nicht sich selbst oder seinesgleichen sei der Mensch in allem Tun und Lassen verantwortlich. Wem der Glaube an göttliche Allmacht begreiflich gemacht war, der konnte für den Glauben an menschliche Macht gewonnen werden. Dazu bedurfte es nur der Einflüsterung, die Götter übertrügen den Wachdienst über das Verhalten der Menschen mit höheren Weihen versehenen irdischen Stellvertretern. So gelang es die Autorität der Priester sicherzustellen und damit jeder weiteren Autorität Zutritt zum gesellschaftlichen Bewußtsein zu schaffen. In guter Kenntnis der Menschenseele wußten die Priester, daß die natürliche Abwehr jeder Autorität im Selbstgefühl begründet ist, das auf Selbstbestimmung und gleichberechtigte Uebereinkunft hinweist. Selbstgefühl und Stolz kann nur durch Erregung von Furcht gebrochen werden. Darum wurde mit dem Glauben an die Götter zugleich die Angst vor ihnen den Gemütern eingeflößt. Die Furcht, sonst allgemein als Kläglichkeit betrachtet, wurde den unsichtbaren Göttern gegenüber zur tugendhaften Pflicht erhoben. Wer aber einmal Gottesfurcht gelernt hat, der wird auch Priesterfurcht, Königsfurcht, Gesetzesfurcht und Eigentumsfurcht lernen und sich nach Belieben regieren lassen.

Außer dem Selbstbewußtsein mußte auch das angeborene Rechtsgefühl, das sozialen Ursprungs ist, gebrochen werden, um auf Autorität Macht begründen zu können. Die Verletzung des sozialen Rechtsempfindens geschieht durch Verweigerung der Gleichberechtigung oder Aufhebung der Gegenseitigkeit im gesellschaftlichen Leben. Da jedoch die Autorität Ungleichheit und Abhängigkeit zur Lebensbedingung hat, mußte der Begriff des Unrechts von seiner selbstverständlichen Bedeutung abgebogen werden. Die Priester ersannen dazu die von der Beziehung zur Gesellschaft losgelöste und nur in Beziehung zur Gottheit festgelegte Sünde. Unrecht ist die Verfehlung gegen die menschliche Gemeinschaft, Sünde die Verfehlung gegen die göttliche, mithin gegen die priesterliche Autorität. Während jedoch der Bestand der sozialen Gemeinschaft durch alles die Gegenseitigkeit störende Unrecht bedroht wird, ist das Begehen sündiger Handlungen Lebensbedingung für die Autorität derer, die über Menschenseelen herrschen wollen. Sie brauchen die Schuld ihrer Gläubigen, weil nur die zerknirschte Seele sich himmlischen Machtsprüchen unterwirft. Alle Priesterschaft lebt vom schlechten Gewissen der Menschen, aber nur die Vorstellung von Strafen nach dem Tode und von Beaufsichtigung auch der geheimsten Gedanken und Regungen hält die Furcht dauernd rege, selbst bei gerechtestem Wandel im Verkehr mit dem Mitmenschen von den göttlichen Geboten abzuirren. Liegt es doch in der Natur jeder Autorität, alle moralischen Verpflichtungen, die das soziale Gewissen fordert, aufzuheben – anders könnte ja keine Obrigkeit ihre eigene Verletzung der Gleichheitsidee sittlich rechtfertigen – und die volle Verantwortung in allen Dingen unter außerhalb der persönlichen Würdigung stehende feste Gebote zu stellen.

Das soziale Bewußtsein unterscheidet rechtliche und widerrechtliche Handlungen; ihr Prüfstein ist die Achtung oder Mißachtung der Gleichberechtigung. Die Autorität dagegen unterscheidet erlaubte und verbotene Handlungen; ein den Beherrschten zugänglicher Prüfstein für ihre moralische Verschiedenheit ist nicht vorhanden. Die Gottheit, die Priesterschaft, in der Folge der Herzog, der Fürst, der Adel, die Führung befiehlt, verbietet, macht schuldig, straft, besteuert, nutzt aus. Das Gesetz tritt an die Stelle der Selbstbestimmung, der Glaube an die Stelle des Urteils, der Gehorsam an die Stelle der Verantwortung, die Demut an die Stelle des Mutes, die Jenseitsfurcht an die Stelle des Diesseitskampfes. Die soziale Gemeinschaft dankt ab zugunsten der unmündigen Bereitschaft, Schuld zu häufen, zu bereuen und abzubüßen, Macht anzubeten und Macht anzustreben, die Persönlichkeit mitsamt der Gesellschaft zu töten und das irdische Leben an ein überirdisches Himmelreich zu verraten. Wer aber im Tode in den Himmel will, der will im Leben an die Macht, und wer im Leben die Macht hat, der tröstet seine Opfer mit dem Himmelreich nach dem Tode.

Solange die Völker sich unbefangen der Natur verschwistert fühlten, in gesellschaftlicher Gegenseitigkeit schufen und genossen, gab es bei ihnen noch keine zentrale Gottheit mit unbeschränkter Autorität. Das kindliche Verehrungsbedürfnis gab den Gestirnen und den Naturkräften Götternamen, aber die heidnischen Religionen verteilten die segenvollen Eigenschaften, die sie den Sinnbildern und Geistern beimaßen, unter die vorgestellten höheren Wesen, und so konnten auch die Priester jeweils nur auf dem Gebiet Autorität geltend machen, auf dem ihre Götter anbetungswürdig schienen. Erst das Judentum zentralisierte den Gottgedanken, erst die jüdisch-christliche Religion stellte eine Allmacht über der Menschheit auf, schuf den Begriff der Gottesknechtschaft, unterwarf Denken, Fühlen und Handeln den unantastbaren Satzungen einer jeder Absetzbarkeit, ja, jeder Anzweiflung entzogenen einheitlichen Autorität. Die Priester des allmächtigen, allwissenden, allgegenwärtigen Gottes erlangten dadurch die schrankenlose Macht über die Seelen der Gläubigen, eine Macht, der sie durch die Errichtung der Kirche den Halt der vollkommensten Zentralisation gaben.

Daß der Anarchismus mit dem Glauben an eine außerhalb der Persönlichkeit wirkende bewußte und willensbegabte Kraft unvereinbar ist, bedarf keiner besonderen Darlegung. Der Begriff der Religion könnte nur insofern mit anarchistischer Denkweise in Uebereinstimmung gebracht werden, wie er als Hingebung und Versunkenheit des Ich in seiner Beziehung zu Menschheit und Weltall gemeint wäre. Wo aber, wie es hier und da geschieht, von christlichem Anarchismus geredet wird, liegt immer der Verdacht nahe, es solle damit zwar die Ablehnung des Staates und der irdischen Obrigkeit zum Ausdruck kommen, hingegen der sich selbst mißtrauenden Seele die Zuflucht zu einer jenseitigen Schöpfer- und Bewacherautorität offengehalten werden. Jede wirkliche oder vorgestellte Autorität ist aber Preisgabe der Selbstverantwortlichkeit an eine über der Persönlichkeit wirkende Macht mit der Bedeutung von Aufsicht, Befehlsgewalt und Gerichtsbarkeit.

Es ist nur folgerichtig, daß die staatliche Autorität sich als moralischer Machtstütze stets und überall der kirchlichen Gebotsformen bedient; ebenso, daß die Kirche nach bester Möglichkeit die staatlichen Machtmittel zum Schutze der göttlichen Autorität in Anspruch nimmt. Die der Staatsmacht in jahrhundertelangen Kämpfen von den sich gegen jeden Gewissenszwang immer wieder aufbäumenden Völkern abgetrotzte formale Anerkennung der Glaubensfreiheit ist den Gesetzgebern fast nirgends ein Hindernis, den jüdisch-christlichen Eingott als tatsächlich vorhanden anzunehmen und unter besonderen Schutz zu stellen. Der Kampf gegen die kirchlichen Lehren von freiheitlichen Gesichtspunkten aus ist auch in Ländern, die in Technik und Wissenschaften weit vorgeschritten sind, größeren Erschwerungen unterworfen als sogar der Kampf gegen den Staat und seine Gesetze und Einrichtungen. Angriffe mit den wirksamen Mitteln des Spottes und der zornigen Grobheit werden von Gott und seinen irdischen Stellvertretern unter Einsatz schwerster staatlicher Straf- und Unterdrückungsmittel abgewehrt. Denn die Religion liefert dem Staate dank ihrer Berufung zur Seelsorge, welche alles irdische Glück aus willigem Glauben, aus Befolgen bestimmter Vorschriften für alles Fühlen und Verhalten und aus der Vorbereitung eines ewigen bewußten Lebens nach dem Tode herleitet, die sittliche Grundlage, die ihm gestattet, auf den Gehorsam gegen seine Regierung zu rechnen. So ist es auch kein Widerspruch, daß der Staat seine Gesetze keineswegs durchweg, wie es die Nurmaterialisten meinen beweisen zu können, nach den unmittelbaren Bedürfnissen der Kapitalisten herrichtet. Von der Aufrechterhaltung der Strafen, welche zum Beispiel das geschlechtliche Verhalten außerhalb der Ehe bedrohen, die bestimmte Veranlagungen verfemen oder die Leibesfrucht der eigenen Entschließung der Frauen entziehen, hängen die Ausbeutungsrechte der Grund-, Haus- und Maschineneigentümer schwerlich ab. In diesen und ähnlichen Fällen dient das Staatsgesetz einfach der Unterstützung der Kirche, in ihrer Aufgabe, den Wandel der Menschen in den privatesten Angelegenheiten zu überwachen und eine Verselbständigung der Persönlichkeit gegenüber den göttlichen Regeln zu verhindern.

Indem der Staat die Macht der Kirche dadurch befestigt, daß er das, was sie Sünde nennt, mit seinen Zwangsvorrichtungen unterbindet, verbreitert er gleichzeitig sein eigenes Machtgebiet über die Grenzen des ihm ursprünglich zugedachten Beherrschungsbereichs des öffentlichen Ordnungsdienstes hinaus. Der Kirche kann dieser staatliche Machtzuwachs aus zwei Gründen nur erwünscht sein: einmal verdingt sich ihr der Staat als Vollstreckungsorgan mit seinen physischen Kräften da, wo ihr eigene Ausführungsgewalt nicht zur Verfügung steht; ferner aber ist keine Macht imstande, sich für die Dauer stark zu erhalten, wenn sie nicht mit der Ausübung von Macht die Verleihung von Macht verbindet. Die Kirchenmacht läßt die Staatsmacht in ihre Bezirke ein, um ihrerseits wiederum Macht über Dinge zu erwerben, die in den weltlichen Geschäftskreis des Staates zu gehören scheinen. Die Macht über die Seelen, die sie kraft der religiösen Beeinflussung der Menschen ausübt, ergänzt sie durch Erringung politischer Macht im Staate. Dadurch macht sie sich den ökonomischen Machthabern unentbehrlich, die nun der Kirche die Wege zu weiterer Entfaltung von Autorität öffnen. Sie liefern der Kirche die Schule aus und erreichen so, daß die Jugend im Geiste der Autorität erzogen wird, somit brauchbaren Stoff zum Beherrschtwerden, willigen Ausbeutungsnachwuchs hergibt und frühzeitig den Drang pflegt, selbst Machtinhaber zu werden. Sie wissen, daß nur der ein guter Knecht ist, der selbst knechtet oder doch knechten möchte, wie die Kirche weiß, daß nur der mit Leidenschaft Herr sein kann, der noch einen Herrn über sich fühlt. Also: mit dem Erwachen von Machtsucht schufen sich die Menschen die Gottheit. Sie unterwarfen sich ihrer Herrschaft, um andere Menschen der eigenen Herrschaft unterwerfen zu können. Jeder Unterworfene wird wiederum mit Macht ausgestattet, damit er um so leichter beherrscht werden kann. Jede Unterwerfung und Beherrschung führt zu materieller Ausbeutung, jede Ausbeutung zu Autorität, Zentralismus, Staat. Gott und der Staat sind die beiden Pole der Macht, die auf der Verneinung von Gleichberechtigung, Gegenseitigkeit und Selbstverantwortung beruht.

Gott und der Staat mit allen ihren Ausdrucksorganen, Kirche, Regierung, Gerichtsbarkeit, Militär, Polizei, Bürokratie, Sultanen, Wesiren, Statthaltern, Kadis, Schatzmeistern, Zollpächtern, Fakiren und Bonzen sind die vollkommensten Verkörperungen zentralistischer Autorität. Die föderative Gesellschaft der Anarchie kann keinen Bestandteil enthalten, der diesen beiden Grundformen der Macht nicht stracks entgegengesetzt wäre. Ihr Gefüge muß von der Wurzel aus anders aussehen und anders wachsen als das Gefüge jeder obrigkeitlichen Organisation. Von der Wurzel aus: die Wurzel des Staates aber, die Keimzelle der Autorität ist die Familie.

Die obrigkeitlich geschützte und nach einheitlichen Grundsätzen geregelte Familie ist Muster und Sinnbild der Zentralisation, vollendete Verkörperung des Machtgedankens, im engen Umkreis Modell von Kirche und Staat, Urform und Inbegriff ausübender und hinnehmender Autorität. Diese Eigenschaften der von Kirche und Staat geschaffenen, betreuten und beaufsichtigten Familie sind gewährleistet durch die Einrichtung der vom Staat beglaubigten, von der Kirche mit göttlichen Weihen versehenen Ehe und durch die Festlegung des Vaterrechts als Ausdruck der Beziehung des Stammes zur Allgemeinheit, der Beziehung der Familienangehörigen zueinander. Die Begründung der Vaterschaftsfamilie erfolgt in der Form der priesterlichen oder behördlichen Vornahme einer Trauung der beiden Personen, welche sich zur gemeinsamen Lebensführung und Erzeugung von Kindern verständigt haben. Die Heirat, gleichviel ob es sich um kirchliche Einsegnung oder um Ziviltrauung handelt, bedeutet also die Einschaltung der öffentlichen Macht in die private Entschließung zweier Menschen, miteinander geschlechtlichen Verkehr zu pflegen. Um ein solches Eindringen obrigkeitlicher Gewalt in den allerpersönlichsten und verschwiegensten menschlichen Willensvorgang erträglich und berechtigt erscheinen zu lassen, bedurfte es der vollständigen Verbildung des natürlichen Wissens um Selbstbestimmung in den Angelegenheiten des eigensten Erlebens. Sie wurde erreicht durch die Verfälschung der Moral von einem sozialen Wertmaß der Rechtsgleichheit und des anständigen gegenseitigen Verhaltens in eine Richtschnur zur Innehaltung des richtigen Abstandes zwischen Machtgebot und Abhängigkeit. Die Beziehung der Geschlechter, dieser durch die Natur selbst jeder Einmischung Dritter entzogene Urquell des Lebens, mußte, um der Macht dienstbar werden zu können, im Gewissen der Menschen zum Herd ständiger innerer Not gemacht werden. Gelang das, so war für den Seelsorger der Weg frei, der Liebe Vorschriften zu machen; die Priesterschaft, mithin die Kirche, der Staat und jede Autorität konnte sich als Macht da einnisten, wo der Machtbegriff für jedes gesunde Empfinden aufhören müßte, Geltung zu haben. Es gelang durch die erfolgreiche Bemühung, den Geschlechtstrieb als eine von Anbeginn sündige Versuchung der Menschenseele zur Erregung fortwährender Gewissensqualen zu benutzen; denn nur so konnte die Vorstellung erweckt werden, daß die Befriedigung des sinnlichen Verlangens unreines Werk sei, solange nicht äußere Gewalten ihr eine genau zu befolgende Dienstordnung gesetzt hätten. Das Leben verteilt in seinem natürlichen Verlauf Last und Lust in dem Ausgleich, der durch den Charakter einer Persönlichkeit bedingt ist. Den zur Erringung des materiellen Daseins erforderten Anstrengungen und Gefahren steht gegenüber die Freude am Schaffen gesellschaftlicher Werte sowie die Genußfähigkeit beim Betrachten und Einatmen der Natur, bei der Aufnahme künstlerischer Schöpfungen und bei der sinnlichen Begegnung mit dem andern Geschlecht. Die Macht- und Ausbeutungsveranstaltungen der Menschen haben die Anstrengungen und Gefahren bei der Arbeit zur Hervorbringung der Güter auf die beherrschte Klasse abgewälzt, der überdies durch die Formen der kapitalistischen Produktionsweise die Freude am Schaffen gründlich vergällt ist, da der Proletarier weder beschließen kann, was er schafft, noch dank der Teilarbeit unter seinen Händen etwas Nützliches entstehen sieht, noch gar irgend einen Vorteil von seiner Arbeit hat oder auch nur mitbestimmen kann, welchem Verwendungszweck sie zugeführt wird. Der Genuß der Natur ist ihm infolge ungesunder Wohnverhältnisse, Entrechtung bei der Festsetzung seiner Freizeit, ungenügender Ernährung und allgemein unfroher Lebensbedingungen wesentlich geschmälert, die künstlerischen Schöpfungen sind ihm ohnehin kaum zugänglich, da die Zulassung zu ihnen fast immer von Geldaufwand abhängig ist und die herrschende Klasse auch durch die verschiedene Schulung dafür gesorgt hat, daß der beste Teil der Kunst und Dichtung ganz und gar ihrer Sinnesart angemessen ist und folglich dem Verständnis der arbeitenden Massen verschlossen bleibt. Die einzige Freude, welche im Erleben selbst schlechterdings einem Teil der Menschheit durch den anderen nicht gekürzt werden kann, weil die Natur keine Stufenleiter der Lustfähigkeit nach Maßgabe der menschlichen Rechtsunterschiede eingerichtet hat, ist die Beglückung der Sinne durch die Liebe und den Geschlechtsrausch. Hier mußte erst nachhaltige Einwirkung auf die Seele der Menschen erfolgen, hier mußte schlechtes Gewissen geschaffen werden, um selbst in dem einzigen Lebenskreis, der dem Armen noch das Gefühl des Glücks und der Beseligung läßt, die Selbstbestimmung zu beseitigen, die amtliche Bewachung durchzusetzen, Macht und Autorität zu entfalten.

Mit Hilfe der unbezweifelbaren und unentrinnbaren Autorität Gottes wurde den Menschen weisgemacht, die Befriedigung ihres Geschlechtstriebes könne von der Brandmarkung als Laster nur befreit werden, wenn sie sich innerhalb der Bindung der beiden Eheteilhaber als pflichtmäßige Zweckhandlung zur Kindererzeugung vollziehe; diese Bindung müsse auf Lebenszeit geschlossen werden, bedürfe der Zustimmung und Abstempelung durch Kirche oder Staat, und jede körperliche Vereinigung zwischen Mann und Frau außerhalb der genehmigten Ehe sei sträfliches Tun, im Falle der ehelichen Gebundenheit eines der beiden schändlicher Ehebruch. Die Sicherung dieser Bindung erfolgte durch die naturwidrige Erhebung der Vaterschaft zum geschützten öffentlichen Rechtsgut. Naturwidrig ist das aus der Vaterschaft abgeleitete gesellschaftliche Recht deshalb, weil der Erzeuger eines Kindes immer nur der Mutter bekannt sein, niemals von Dritten festgestellt werden kann, auch Aehnlichkeit und vermeintliche Vererbung von Eigenschaften über Vermutungen hinaus keine Beweiskraft haben. Erst die Uebertragung vorbehaltloser Befehlsgewalt auf den Mann ergab die Möglichkeit, die Vaterschaftsfamilie dadurch zu befestigen, daß die Frau und die Kinder in sklavenhafter Abhängigkeit gehalten und unter eine Aufsicht gezwungen werden, die alle Selbstbestimmung zum Ungehorsam, das Begehen selbstgewählter Wege zur Gefahr macht. Um also die Geschlechtsbetätigung unter die Macht der öffentlichen Zentralstellen zu bringen, stattete man den Kindererzeuger innerhalb der Familie mit zentralen Machtbefugnissen aus, machte ihm das Aufpassen auf die Frau in ihrem gesamten Triebleben und der Frau das gleiche Aufpassen auf den Mann in seinem geschlechtlichen Verhalten zur sittlichen Pflicht, erzog zugleich die Kinder im Geiste strenger Unterordnung vom Anfang des Lebens an und erweckte in ihrem Nachahmungsdrang mit dem Vorbilde der väterlichen Machtvollkommenheit von frühauf das Streben, selbst Macht zu erwerben.

Auf keinem anderen Gebiet ist die Abtötung der natürlichen Lebensinstinkte in dem Maße gelungen wie im Bezirk der Geschlechtlichkeit. Selbst bei Anhängern autoritätsfeindlicher Lehren trifft man vielfach die Neigung, dem Recht auf Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Gleichheit im eigenen Familienkreise den Einlaß zu verwehren. Das wird mit der Behauptung erklärt, die Eifersucht sei ein angeborenes, darum unbedingt gültiges Gefühl, in der Liebe naturhaft begründet und daher als Stütze der Gegenseitigkeitsbeziehung den Gattenanspruch auf Ausschließlichkeit der Geschlechtsgemeinschaft moralisch rechtfertigend. Aus solcher Sinnesart spricht nichts als völlige Verfangenheit in den autoritären Vorstellungen, wie sie Kirche, Staat und Schule in jahrtausendlanger inbrünstiger Mühe den zur Beherrschung auserkorenen Gemütern eingeflößt haben. Wer auf die Geschlechtshingabe eines anderen Menschen einen Rechtsanspruch erhebt, verlangt die Preisgabe der eigenen Verfügung eines anderen Menschen über sich selbst, will Besitzer einer zweiten Person sein, ist Sklavenhalter; wer umgekehrt den Anspruch eines anderen auf seinen Körper anerkennt, begibt sich notwendig des Rechtes auf sich selbst in allen Lebensbeziehungen und wird Sklave eines Nebenmenschen. Wer aber irgendwo Sklavenhalter oder Sklave sein kann, der kann es überall sein und wird es überall sein. Eifersucht ist Besitzneid, bezogen auf die Liebesempfindungen eines anderen Menschen. Neid wird allenthalben als eine der erbärmlichsten Eigenschaften der Menschen ausgegeben, sofern er sich auf Güter erstreckt, die der Reichtum der Armut vorenthält. Neid gilt also als Schande, wo er der Ungleichheit in der von Menschen veranstalteten Verteilung des sachlichen Eigentums Abbruch zu tun droht. Der Neid hingegen, der der anderen Person aus Eigennutz die selbständige Entschließung über das ureigenste Verhalten in den privatesten Dingen mißgönnt, dieser Neid wird mit dem Heiligenschein einer Liebestugend umkränzt, ihm wird allerorts Ehrfurcht erwiesen, an ihn klammert sich der sonst hoffnungslos verknechtete Unterdrückte mit seiner Herrschsucht und seinem Machtwahn.

Es hat Zeiten gegeben, in denen die Vaterschaftsfamilie unbekannt war. Bevor es einen Staat gab, bevor das Priestertum und die Waffenträger Vorrechte und Macht über die Menschen brachten, galt das Mutterrecht, das der Frau die Wahl ließ, wer jeweils Vater ihrer Kinder werden sollte. Damals erfuhr offenbar die geschlechtliche Eifersucht nicht die Einschätzung eines berechtigten Anspruchs einer Person auf die andere. Ganz allmählich, in langen Uebergangszuständen ist aus der völlig ungebundenen Männer- und Frauengemeinschaft, bei der die Zahl der Gatten und die Dauer der Verbindung im Belieben aller Beteiligten stand, die Familie entstanden, zuerst in der Form, daß die Mutter den Vater ihrer Kinder zur Teilnahme an der Hausgemeinschaft zuließ, dann in Gestalt der Sippenehe, bei der Männer und Frauen innerhalb der Verwandtschaft einander verfügbar waren, schließlich, in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der Eigentumsvorrechte, in Gestalt der Vaterherrschaft. Aber erst mit der Ausbreitung des jüdischen Gottglaubens, wo ja die Vaterautorität deutlich versinnbildlicht ist, erhielt die den zentralistischen Grundgedanken von Kirche und Staat angepaßte Einrichtung der Vaterehe die Weihen der Heiligkeit.

Der kommunistische Anarchismus ist schlechterdings als gesellschaftliche Wirklichkeit nicht vorstellbar, ohne daß dem Staat und jeder Art Zentralismus und Ausbeutung durch die Entfernung, ja durch die Aechtung familiärer Macht- und Hoheitsverhältnisse die Grundlage entzogen wäre. Wollen zwei Menschen ihr Leben gemeinsam führen, so ist das Sache ihrer eigenen Uebereinkunft; sobald aus dieser Uebereinkunft ein gegenseitiges oder einseitiges Besitzrecht oder gar Alleinbesitzrecht entsteht, ist im engen Kreise ein Machtzustand geschaffen, der mit unausweichlicher Notwendigkeit andere Personen in Mitleidenschaft zieht, zunächst diejenigen, auf die sich das Verlangen eines der Gatten richtet. Macht ist aber eine Seuche, die sich aller Umgebung mitteilt und sie in irgendeiner Weise in Abhängigkeit bringt, folglich Ungleichheit schafft, die wiederum Obrigkeit und Ausbeutung nach sich zieht. Die Moral der Anarchisten muß daher ausgehen von der bedingungslosen Billigung alles dessen, was auf geschlechtlichem Gebiete in unbeeinflußter Uebereinstimmung selbstverantwortlicher erwachsener Menschen geschieht. Unsittlich ist nie, was zwei Menschen tun, um einander Freude zu bereiten, unsittlich ist stets die Einmengung eines Dritten in ihre Verständigung.

Kein Mensch, weder Mann noch Frau, ist von der Natur so eingerichtet, daß er sich sein Leben lang sinnlich nur zu einem passenden Individuum hingezogen fühlen sollte. Der Geschlechtstrieb läßt sich nicht befehligen, ohne verdorben zu werden, und er läßt sich nicht verbieten oder einengen, ohne zu verkümmern. Die Eifersucht sichert die Ausschließlichkeit der Hinneigung eines Menschen zum andern nur bei völlig machtbefangenen Menschen, bei selbständig empfindenden, der Autorität unzugänglichen Naturen zerstört sie die Unbefangenheit des Verhaltens und verursacht dadurch fast immer das Gegenteil dessen, wofür sie eifert. Alle Liebesverständnisse beruhen auf Gegenseitigkeit. Aber die Gegenseitigkeit wird nicht von dem Teil aufgehoben, welcher verschiedene Verständnisse unterhält, sondern von dem, welcher vom andern die Innehaltung einer Zwangsbindung ausschließlich an seine Person verlangt. Aus dem Zusammenfinden sinnlich bewegter Menschen, sei es zur Führung gemeinschaftlicher Häuslichkeit, sei es im Ueberschwang eines Augenblicks zur Erfüllung eines vorübergehenden Begehrens, lassen sich allgemeine Regeln und moralische Gesetze überhaupt nicht ableiten. Die Angelegenheiten der Geschlechtlichkeit haben mit sozial begriffener Sittlichkeit nicht das geringste zu tun, sofern nicht Gewalt, Mißbrauch wirtschaftlicher Abhängigkeit oder Verführung unentwickelter Kinder und der Willensfreiheit Beraubter den Verkehr zur Machthandlung erniedrigt, das Verhältnis gleichberechtigter Gegenseitigkeit zerstört und damit den privaten Vorgang gemeinschädlich auf die Gesellschaft zurückwirken läßt.

Die religiösen Gebote und in ihren Spuren die Staatsgesetze haben das geschlechtliche Verhalten, das sich, sozial gesehen, für ihre Machtzwecke kaum verwenden ließe, der öffentlichen Moral insgesamt zugrunde gelegt; sie haben die Menschen gewöhnt, unter Sittlichkeit die Einordnung der sinnlichen Bedürfnisse in die vorgeschriebenen Beschränkungen zu verstehen. Nur so war es möglich, die autoritäre Ehe, die lebenslängliche Zwangsbindung zur Familie zur unbestrittenen Selbstverständlichkeit der privaten Lebensorganisation zu machen. Die Vatermacht im Hause gab der Priestermacht der Kirche, der Regierungsmacht im Staate, der Kapitalsmacht in der Oekonomie die moralische Weihe; sie konnte daher nicht strenge genug gewahrt werden. Dabei ist zwischen dem orientalischen Recht der Männer, beliebig viel Frauen zu heiraten und dem christlichen und europäischen Grundsatz der Einehe, kein Unterschied des Wesens sondern nur der Abstufung. Die Vielehe ist nur dem Mann erlaubt, sie ist also der krasseste Ausdruck der unbeschränkten Vaterautorität in der Familie und schützt den Mann auch im Geschlechtsleben vor jedem Dreinreden innerhalb seines Herrschaftsbezirks. In der Einehe ist zwar die Frau ebenfalls ganz der Befehlshoheit des Mannes unterstellt – die bürgerlichen Gesetzbücher, ebenso wie das Kirchenrecht weisen der Ehefrau noch in unsern Tagen die Rolle der gehorsam dienenden Untergebenen und zur widerspruchslosen Hingabe verpflichteten Bettgenossin des Gatten an –, aber durch das Verbot, sich mehr als eine Ehesklavin zu halten, steht in bezug auf sein Sinnenleben auch der Mann unter Aufsicht, ist seine Gottähnlichkeit in der Familie in einem Punkt eingeengt, und die Frau, was noch wichtiger ist, wird in sehr schmalem Raum ebenfalls als Machthaberin zugelassen, tränkt sich mit dem Stolz, irgendwo auch Autorität betonen zu dürfen und wird um so zuverlässiger die Kinder im autoritären Geiste erziehen und sich der Autorität des Mannes, der Kirche und des Staates unterwerfen.

Der Verzicht auf die amtliche Beglaubigung einer Ehe ändert natürlich am Charakter der Familie nur dann etwas, wenn die überkommene Moral des gegenseitigen Machtverhältnisses darin keine Auferstehung erlebt. Jede auf pflichtschuldige Fügsamkeit, auf Unterbindung der Selbstbestimmung und Verbot außerehelicher Beziehungen gegründete Verbindung trägt alle Wesenszüge der zentralistischen Obrigkeitsorganisationen, der Kirche und des Staates, in sich. Der Mann, der Familienvater verfügt über eine fast unbegrenzte Autorität, die ihm von den öffentlichen Gewalten ausdrücklich gewährleistet wird. Er hat das Züchtigungsrecht über Frau und Kinder, er vertritt sie vor den Organen des Staates, er bestimmt über Wohnsitz und Vermögen; ihm tritt auch kein Gesetz in den Weg, wenn er sie kapitalistisch ausbeutet. Nur das Leben der Seinen darf er nicht auslöschen; daran hat der Staat Anteil, der Arbeitskräfte braucht, um sie beherrschen zu können. Mit dieser Regelung der Familienrechte wird erreicht, daß der überall gefesselte Mensch in seinem engsten Lebenskreise selbst fesseln kann, ihm folglich die Schändung der Persönlichkeit durch jedwede Verknechtung nicht zum Bewußtsein kommt. Er gewinnt Geschmack am Zentralismus, da er selbst irgendwo Zentralgewalt ausübt. Für die nie ganz ausrottbare Sehnsucht nach Selbstverantwortung und Gegenseitigkeit wird ihm in seinem Heim eine von Staats wegen genehmigte Stätte überlassen, wenn auch die Gegenseitigkeit nur in der Befugnis der Gatten besteht, einander unter Polizeiaufsicht zu halten. Im übrigen wird die Gottähnlichkeit der Eltern den Kindern gegenüber durch kirchlich und staatlich verordnete Sittenlehren befestigt und durch die Verleihung des Erbrechts auch für die kapitalistischen Machteinflüsse nutzbar gemacht. Endlich aber wird durch die Einrichtung der in sich geschlossenen Familien ein Sippenstolz gezüchtet, der dieses verkleinerte Abbild des Staates immer wieder anspornt, sich in der Abkapselung mehr zu dünken als die Nachbarfamilie, was die Neigung in sich schließt, sich auf ihre Kosten zu bereichern. So wird jede föderative Gemeinschaft von unten auf schon in der gesellschaftlichen Keimzelle verhütet, das Streben nach allgemeiner Gleichberechtigung durch den Anreiz zum Geltungswettstreit unterbunden, die Grenzlinie zwischen den gemeinsamen Opfern einer größeren Macht verstärkt, der Gedanke der feindlichen Abgrenzung, ohne die es kein zentrales Gebilde geben kann, im Boden des privaten Machtinteresses der einzelnen verwurzelt. Mit dieser Eigenschaft jedoch, als umzäunte Burg selbstgerecht und selbstsüchtig sich mit ihren Zugehörigen gegen die anderen Sippschaften abzuschließen, erfüllt die autoritäre Familie ihre eigentliche Aufgabe, der heranwachsenden Jugend mit dem Familiensinn den Staatssinn, den Willen zur Macht des eigenen Staates, die Feindschaft gegen andere Staaten, das Verlangen nach Eroberung, Unterdrückung, Ausbeutung der Völker jenseits der Staatsgrenzen, den Nationalismus aufzupfropfen.

Nation ist Völkerschaft, also eine räumliche verbundene, durch gemeinsame Lebensbedingungen, Sprache und Gewohnheiten zusammengehörige Menschengemeinschaft. Die Begriffe Nation und Volk decken sich ungefähr, sofern sie einfach zur Unterscheidung der verschiedenen in Ländern zusammengefaßten Menschheitsteile gebraucht werden. Nationalität bedeutet Zugehörigkeit zu einem Volk. In keinem dieser Worte ist mehr enthalten als ein Bestimmungsmerkmal, keins drückt einen abmeßbaren Wert aus. Erst mit der Zerspaltung der Völker in Klassen, mit ihrer Unterwerfung unter den Krieger-, den Priester-, den Grundherrn-, den Kapitalistenstand gewann die Nation den Sinn eines moralisch gestützten Herrschaftsgebildes, und heute ist Nation längst die feierliche Bezeichnung für den nüchternen Machtbegriff Staat. Nationalismus ist die Gesinnung, die den eigenen Staat für den vor allen anderen ausgezeichneten hält, welcher kraft der Tugenden des in ihm organisierten Volkes das sittliche Anrecht habe, seine Grenzen ständig zu erweitern, seine Gesetze und sittlichen Lehren anderen Völkern als maßgeblich aufzuzwingen und fremden Arbeitsertrag den eigenen Machthabern nutzbar zu machen. Nationalismus ist die weihevolle Verklärung des Staatsgedankens, die Uebertragung der autoritären Familienmoral auf die Völker.

Hält sich in der zur gesellschaftlichen Einrichtung erhobenen und gesetzlich geschützten Vaterschaftsfamilie der Machtgedanke hinter rührseligen Vorwänden als Züchtigkeit, Angehörigenliebe, Blutsverbundenheit verborgen – lauter Dinge, die vorhanden sein können oder auch nicht, die aber niemals von äußerlichen Rechtssatzungen abhängen –, so erklärt der Nationalismus die Macht offen zum sittlichen Grundsatz und erhöht den Befehlsapparat der Arbeitsmitteleigentümer, den Staat, zum erhabenen Träger der also geheiligten Macht. Um des Nation oder Volk genannten Staates willen wird der Artbegriff der Menschheit aus dem Bewußtsein der Menschen gestrichen, an Stelle der Gleichberechtigung aller Artgenossen das Vorrecht für das in den eigenen Landesgrenzen zentralistisch regierte Volk begehrt, der Anspruch auf Unterjochung, Beherrschung, Versklavung der anderen Völker verkündet, die kriegerische Gewalttat, die Beraubung, ja Ausrottung jenseits der Landesgrenze wohnender Bevölkerungen zur Pflicht gemacht, Grausamkeit, Tücke, Lästerung, Mordbrennerei, Verleugnung aller angeborenen sozialen Empfindungen für Tapferkeit und nationales Recht ausgegeben und jeder Machtvorteil des eigenen Staates unterschieds- und bedenkenlos heilig gesprochen.

Es ist gewiß richtig, daß alle Kriege, alle staatlichen Grenzerweiterungen und nationalen Ansprüche materiellen Nutzen erzielen sollen. Aber es trifft hier wie überall zu, daß der Machtzweck allen materiellen Zwecken übergeordnet ist, daß die Beherrschung von Menschen durch Menschen der leitende Beweggrund aller Unterdrückung ist, wenn auch allerdings die wirtschaftliche Ueberlegenheit unentbehrliches Mittel zur Erlangung von Macht bleibt. Beweis für das Uebergewicht des Machtstrebens über das bloße Bereicherungsbedürfnis ist der stets erfolgreiche Anruf der nationalen Gesinnung im Falle drohender Machtschmälerung oder angeblicher Beleidigung der nationalen Würde, unter welcher nichts anderes verstanden werden kann als Geltung, Maßgeblichkeit, Autorität. Die zum nationalen Kampf bereiten Massen haben für sich selbst ökonomische Vorteile so gut wie nie zu erwarten, mit dem Versprechen ausmünzbarer Belohnung werden sie auch nur in beschränktem Maße in Begeisterung versetzt; aber ihre Zugehörigkeit zur Nation wird ihnen als seelischer Wert einleuchtend gemacht, das heißt, das ihnen aus dem Kirchenglauben und dem Familiensinn geläufige Autoritätsbewußtsein wird zum nationalen Machtrausch gesteigert, indem jedem Individuum der Stolz geschwellt wird, sich selbst als Teil einer weltwichtigen Autorität fühlen zu dürfen. So wird dem ausgebeuteten Volk das Machtgelüst auf einen ideellen Nenner gebracht, in seiner Vorstellung das räumlich abgesteckte Staatsgebiet zu einem religiösen Begriffswert erhoben, der zentralisierte Regierungskörper priesterlich umschmückt, als ob er nicht das regelnde Organ kapitalistischer Machtverhältnisse, sondern das Sinnbild ehrfurchtgebietender Schöpferkraft wäre; und zugleich verständigt sich die ausbeutende Oberschicht über alle Ländergrenzen hinweg zur gemeinsamen Wahrung ihrer Eigentumshoheit, schließt Vereinbarungen ab, die ihre Klassenstellung zur wirklichen, von keinem Nationalismus eingeengten Macht durch Gewinn und Reichtum festigen. Die Machtverständigung der Oberklasse erstreckt sich über alle Wirtschaftsgebiete mit Einschluß der Herstellung der Kriegswaffen, welche dazu dienen sollen, den Völkern im gegenseitigen Abmetzeln ihren nationalen Machtdünkel lebendig zu halten, sie also durch eingebildete Autorität der fühlbaren Autorität willfährig zu machen. Der Nationalismus, das ist der Hochmut, der sich auf Volks- und Staatszugehörigkeit stützt, hat dieselbe Quelle wie jedes Wertgefühl, das statt auf persönliche Leistung und soziales Verhalten auf Umstände gegründet ist, die außerhalb des Willens des einzelnen liegen: die Autorität, die kritiklose Anerkennung fordert, um Macht ausüben zu können, und die Autorität und Scheinmacht verleiht, um dem Machtgedanken die Gefahr des Zweifels an seiner Berechtigung fernzuhalten.

Die jüdische Gottvater-Lehre, die den einzigen, allmächtigen, allgerechten, allgegenwärtigen Gott mit dem finster drohenden Verlangen über die Menschen setzt, in unaufhörlichem Gebet angefleht, bewundert, der hingegebenen Verehrung versichert und für alles, selbst für jede Qual und Demütigung bedankt zu werden, schuf den westlichen Völkern die Voraussetzung zur Hinnahme der Vaterschaftsfamilie mit der gottähnlichen Stellung des über die Seinen herrschenden Oberhauptes. Diese autoritären Vorbilder haben auch dem Staat mit seiner nationalistischen Ideologie die Bereitwilligkeit der Menschen zur Untertanschaft unter eine zentralistisch schaltende Macht, zum Verzicht auf Selbstverantwortung, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung in den Dingen des gesellschaftlichen Zusammenlebens erschlossen. Gottvater, Vater, Vaterland – die Einwirkung auf die Gefügigkeit der Menschen geschieht überall auf die gleiche Weise, indem sie die soziale Gegenseitigkeitsverknüpfung, die natürlich weder an Hausmauern noch an Landesgrenzen aufhören kann, übersieht und die Ueberheblichkeit durch die Verpönung aller Glaubenslehren außer der eigenen, durch die Vergottung der eigenen Familie mit ihren Vorfahren und Eigentümlichkeiten, durch die Heiligsprechung der eigenen Nation und die Feindschaftspflege gegenüber anderen Völkern aus moralischer Verpflichtung großzieht. Es ist das Verhängnis der Juden, daß sie, die die Autorität in ihrer verwegensten Vollkommenheit als höchsten Ausdruck der Lebensgestaltung über die Menschheit gebracht haben, die Wirkungen ihrer Lehren am bittersten spüren müssen. Sie haben den Glauben an den einzigen Allgott, die gottgewollte Vaterautorität und folgerichtig die nationalistische Formel vom auserwählten Volk Gottes in die Welt gesetzt. Wer vom Vaterland spricht, spricht in jüdischer Denkweise, denn er bekennt sich zur Verherrlichung einer, nämlich seiner Nation, er bekennt sich zum auserwählten Volk. Aus diesem Bekenntnis leitet er das Recht ab, andere Völker zu hassen, zu verachten, zu vergewaltigen, und die Juden, ehedem selbst eine in räumlicher Umzäunung zentralistisch organisierte Nation, werden, über alle Länder verstreut, von nationalistisch besessenen Nachfahren ihres Geistes, aber anderen Stammes, als Eindringlinge, Feinde und verächtliche Fremde verfolgt, beschimpft, verleumdet und mißhandelt. Das natürliche Rechtsgewissen wird durch National- und Rassenüberhebung vernichtet. Gleiche Herkunft, gleicher Stammbaum, gleicher Wohnsitz und Versklavtsein an denselben Herrn genügt zur Aechtungsgemeinschaft gegen die Nachkommen anderer Ahnen und die Sklaven anderer Herren.

Es bedarf nach allem schon Gesagten keiner Begründung mehr, warum der Anarchismus mit nationalen oder rassischen Wertunterscheidungen unverträglich ist. Anarchie bezeichnet eine Menschengesellschaft, deren föderalistischer Aufbau die internationale Ausweitung aller Verbindungen, auch der gefühlsmäßigen, ohne weiteres bedingt. Die Organisation der Arbeit und des Zusammenlebens von unten herauf fußt auf der Kultur der Persönlichkeit, die sich mit anderen Persönlichkeiten im gleichen Streben zur Kameradschaft, zur Gemeinde, zum Wirtschaftsverband, zum geistigen Austausch im Sprachbezirk, im Umkreis wissenschaftlicher, künstlerischer, technischer, sportlicher, internationaler Verbände, zur Weltgemeinschaft zusammenfindet. Die Persönlichkeit zieht aber ihre Werte aus sich selbst, um nach ihrer Charakterbildung und ihrem Schaffen im sozialen Zusammenhange beurteilt zu werden. Die Haar-, Augen- und Hautfarbe der Vorfahren, die Frage, ob jemand diesseits oder jenseits eines Flusses geboren sei, ob seine Sprache und Lebensform von diesen oder jenen geschichtlichen, geographischen, klimatischen Umständen gestaltet wurde, kann nur von Machtlüsternen und Machthörigen als Urteilsmaß für Menschenwerte verwendet werden. Denn hier waltet der Drang, Grenzlinien zu schaffen, um allen menschlichen Organisationen die pyramidenförmige Gestalt, das Zusammenlaufen aller Fäden in eine Spitze, also Zentralisation, also Lenkung von oben herunter zu sichern, mit der wiederum Mißgunst und feindlicher Wettbewerb mit der Nachbarorganisation und ihrer zentralen Spitze verbunden ist.

Eine geistig-seelische Zusammengehörigkeit des Menschen mit dem Boden gibt es natürlich, aber nur da, wo Arbeit und Leben unmittelbar aus dem Erdboden wächst. Nur noch der Bauer hat diese innige Berührung mit dem Lande, die es zu einem Stück seiner selbst macht, wie er sich als Bestandteil des von ihm beackerten Grundes empfindet. Aber der Bauer hat deshalb kein Staatsbewußtsein, sondern Heimatliebe. Die Vermengung der Begriffe Heimat und Vaterland gehört zu jenen Umnebelungskünsten, mit denen die Machtzentralisten alles natürliche Denken zu verwirren suchen. Vaterland ist ein vorgestelltes Ideal ohne gedankliche Bestimmbarkeit, sachlich bezogen auf ein genau abgestecktes Ländergebiet, dessen Zusammenhalt einzig in gemeinsamen, von einer zentralen Regierung diktatorisch oder demokratisch erlassenen, auf die Machtverhältnisse und Eigentumsrechte zugeschnittenen Gesetzen ruht. Die Grenzen dieses Ländergebietes sind veränderlich, und um sie zum Zwecke der Machtvergrößerung verändern zu können, ist die Vaterlandsidee in die von religiöser und familiärer Ueberlieferung hinlänglich zur Aufnahme autoritärer Einflüsse vorbereiteten Gemüter hineingesenkt worden. Vaterlandsgefühl ist ein künstlich hervorgebrachtes, in der seelischen Veranlagung der Menschen nicht ursprünglich begründetes, machtbetontes Geltungsbedürfnis, gleichbedeutend mit Staatsbewußtsein, das nichts anderes ist als Wissen um die Zweckmäßigkeit staatlicher Macht für die Machthaber im Staate. Es kann kein Vaterlandsgefühl geben, das nicht seine Nahrung zöge aus der Feindseligkeit gegen andere Vaterländer. Die Erziehung der Jugend geschieht von früh auf im Geiste der nationalen Ueberhebung, indem das eigene Land an Hand der Machtgeschichte der Vergangenheit als das einzige zur Machtausübung berufene Vaterland vorgeführt wird. Der von Kirche und Familie gepflegte Geist der Unterordnung unter die Autorität wird hier ergänzend auf die Einbildung abgerichtet, Zugehörigkeit zu einem Volke, Staatsbürgertum innerhalb der eigenen Staatlichkeit berechtige zum Herrschen über andere Völker. Solcher Staatsbürgerdünkel wird zur sittlichen Pflicht gemacht, dadurch aber, daß jede Staatsmacht den Dünkel für die eigene Nation heischt, daß jede Rasse sich als die einzig auserwählte, des Vorrechtes werte ausgibt und niemandem erlaubt wird, sich beim Vergleich der Werteigenschaften für eine andere Nation als die eigene zu entscheiden, wird neben der für die Erhaltung jeder Staatsmacht notwendigen Feindschaft zwischen den Völkern die haltbarste Stärkung des Autoritätsgedankens erreicht; geglaubt wird nicht was in selbständigem Urteil erkannt wird, sondern was zu glauben Vorschrift ist.

Heimatliebe hat mit Vaterlandsverehrung nichts zu schaffen. Daß sich die Vaterlandsprediger auf Heimatsempfindungen beziehen, hat seinen Grund eben darin, daß der naturnahe Mensch naturmäßige Hinweise braucht, um naturfremde Wertsetzungen ins Gefühl aufnehmen zu können. Heimatliebe hat der Mensch, dessen Wachstum aus landschaftlichen und klimatischen Reizen gefördert wurde. Jedes nicht aus seiner natürlichen Umgebung gerissene Tier empfindet Heimatliebe, ohne sie je in Vaterlandsgefühl umzudeuten, ohne je für seine Heimat erweiterte oder umpanzerte Grenzen zu wünschen. Ein Tier ohne Heimat wird füglich auch keine Heimatliebe spüren, höchstens Sehnsucht nach Heimat. Nicht anders ist es beim Menschen. Kann der mangelhaft ernährte, in einem ungesunden Kellerloch aufwachsende junge Mensch seine trübe Kindheitsumgebung als lockendes Heimatbild über seinem Lebensweg leuchten lassen? Kann er – und dies ist doch wohl das Erkennungszeichen der Heimatliebe – in der Ferne vom Verlangen bewegt werden, vom Dunstkreis seiner Herkunft wieder umfangen zu werden? Wessen Jugend kein Heim hatte, wessen Heim keine Freude barg, der hatte auch keine Heimat, mit der ihn eine Liebe verbinden könnte. Eine Pflicht zur Liebe aber gibt es nicht, und daß man Heimatliebe zur Pflicht erhebt, indem man dem, dessen Fuß nie ein heimatliches Stück besonnten Landes berührt hat, von einem Vaterlande zu überzeugen vermochte, das seine Hingabe, seine Liebe, seinen Heldensinn, sein Blut und sein Leben fordern dürfe, das zeigt, bis zu welchem Grade der Verzerrung der Autoritätswahn die menschliche Seele hat verunstalten können.

Der Bauer, soweit er nicht schon als Ausgebeuteter, dem Großgrundbesitz und der Staatskasse Verschuldeter oder auch selbst zum kapitalistischen Ausbeuter Erniedrigter dem bäuerlichen Naturgefühl entfremdet ist, hat Heimatliebe, weil er wirkliche Heimat hat. Ein bestimmtes Stück Land umfängt ihn, ernährt ihn, ist ihm in Sorge und Freude vertraut; seine Arbeit verschmilzt mit seinem ganzen persönlichen Leben, seine Scholle ist sein Nest, die Natur, ganz gebunden an die Landschaft, ist sein Besitzgut, und von ihr hängt das Gedeihen oder das Mißlingen seines Daseins ab. Der Bauer fühlt sich nicht als Eigentümer seines Bodens, sondern als Besitzer; er sitzt darauf mit denen, die viel weniger seine machtunterworfene Familie als seine in gegenseitiger Verpflichtung verbundenen Helfer sind. Wohl hat das Priestertum auch in der Bauernschaft den Geist der Autorität hochzüchten können, so daß bei der Beharrlichkeit des bäuerlichen Denkens die Grundsätze der ehelichen Gebundenheit und der Vaterhoheit, zumal in ihrer geschickt gefädelten Verquickung mit den Regelungen des Familien- und Erbrechts die Welterneuerung auch auf dem Lande noch genügend Vorurteile der Macht zu überwinden haben wird. Dennoch hat hier der kommunistische Anarchismus nicht das unzugänglichste, sondern das dankbarste Feld seiner Zukunft zu erkennen.

Die Bauernschaft nämlich ist bis auf zeitliche Erschütterungen durch politische Bearbeitung, die sich jedoch auf Erregung von Mißverständnissen zur Stimmengewinnung beschränken mußte, auch nur verhältnismäßig geringe Massen der Bauernbevölkerung überhaupt erreichte, gegen das Eindringen nationalistischer Einflüsse stets giftfest geblieben. Grade die tiefe Verwurzelung mit der Heimat schließt das Vaterlandsgefühl im Landvolk ganz aus, das ihm mit dem Vorgeben zugemutet wird, die Heimat erstrecke sich über das ganze jeweils staatlich beherrschte Land, welches, dem heimischen Acker gleich, innerhalb der geltenden Staatsgrenzen zu lieben sei, wobei vor und nach Kriegen das mit solcher Liebe zu umfangende Gebiet in neuen, engeren oder weiteren Grenzen ins Heimatgefühl einbezogen werden müsse. Der bäuerliche Geist kennt weder eine seelische Zusammengehörigkeit mit Menschen, zu denen gar keine gemeinsamen Lebenswege laufen, mögen diese Menschen immerhin innerhalb der gleichen Staatsgrenzen wohnen, noch kennt er Haß und Geringschätzung gegen Fremde, die nicht schädigend in seine Kreise einzudringen suchen, mögen diese Fremden diesseits oder jenseits eines Gebirgszuges hausen, mögen sie eine Hautfarbe, eine Kopfform, eine Ahnenreihe haben wie sie wollen. Dagegen sträubt sich die Natur des Bauern aufs heftigste gegen alles, was ihm die Selbstbestimmung in seinem Schaffensbezirk schmälern will, was den Geist der gegenseitigen Verständigung auf dem Lande durch obrigkeitlichen Befehl zu ersetzen sucht, gegen jedes Dreinreden einer Zentralstelle in seine Angelegenheiten, gegen Beamtentum und Bürokratie, gegen den Staat, wo das Dorf in Frage steht, gegen das Gesetz, wo Verträge möglich sind. Jeder Bauer ist, ohne es zu wissen, Anarchist, und der kommunistische Anarchismus hat die größte Anwartschaft, einmal von Bauern verwirklicht zu werden, da der Gedanke, daß in voller Gleichberechtigung und unter Ausschließung des zentralen Gebotes jeder nach seinen Fähigkeiten arbeiten, jeder nach seinem Bedarf verbrauchen soll, den Naturwillen enthält, wie er bei aller Verleugnung durch menschliche Machtveranstaltungen unverlierbar fortbesteht und wie ihn die Bauern in allen Ländern und Gegenden im Gefühl am Leben wissen. Das Bauerntum hat kein Staatsbewußtsein und wird keins lernen, denn es hat das Bewußtsein der eigenen Kraft, das ist das Bewußtsein der Persönlichkeit und der föderativen, bündnishaften Gemeinschaft von Persönlichkeiten zur Versorgung der gesellschaftlichen Geschäfte. Die Anarchie wird ihre Stätte zuerst auf dem Lande finden, weil das Land nie ganz aufgehört hat, in Anarchie zu leben und zu wirtschaften.

In Anarchie leben, in Anarchie wirtschaften heißt aber dem Leben und der Wirtschaft die Ordnung der Freiheit schaffen. Das nämlich ist die Erkenntnis der anarchistischen Lehre: es gibt keine Ordnung ohne Freiheit, und Staat und Zentralismus, Autorität und Macht sind nicht allein unvereinbar mit aller Freiheit, sie sind auch unvereinbar mit aller wirklichen Ordnung im lebendigen Gesellschaftsgeschehen. Was im vorigen als die Wesensform des Föderalismus zu bestimmen versucht wurde, kann im allgemeinen zugleich als die Organisation freiheitlicher Ordnung gelten. Unter Ordnung versteht der Sprachgebrauch die Innehaltung einheitlicher Gesichtspunkte im gesellschaftlichen Handeln. Wo Zentralismus, also die Regelung der Dinge nach obrigkeitlichen Anweisungen, waltet, unterliegen die Gesichtspunkte des gesellschaftlichen Handelns den wechselnden Nutzzwecken der Macht; ihre Einheitlichkeit ist daher nicht verbürgt. Das Ineinandergreifen der schaffenden Kräfte, die das einzige Merkmal lebendiger Ordnung ist, wird zur mechanischen Geschäftigkeit, zum Zwangsdienst zusammenhangloser Leistungen verdorben. Zusammenhanglosigkeit aber ist das Gegenteil von Ordnung, nämlich Unterordnung, Drill, Zucht, Unfreiheit, Knechtschaft. Eine geordnete Gesellschaft besteht durch verbundenen Willen der Menschen zur Erfüllung einheitlich erkannter, gemeinsamer Aufgaben, setzt also Gleichheit, Gegenseitigkeitsverpflichtung und soziales Verantwortungsbewußtsein jedes einzelnen voraus. Mit einem Wort: Ordnung im Sinne anarchistischer Auffassung kann nur wachsen aus der Selbstbestimmung derer, die Ordnung halten sollen. Ordnung aus Selbstbestimmung aber ist gleichbedeutend mit gesellschaftlicher Freiheit.

Freiheit ist der Inbegriff alles anarchistischen Denkens und Wollens. Um der Freiheit willen sind wir Anarchisten, um der Freiheit willen Sozialisten und Kommunisten, um der Freiheit willen kämpfen wir für Gleichheit, Gegenseitigkeit und Selbstverantwortlichkeit, um der Freiheit willen sind wir international und föderalistisch gesinnt. Dennoch ist das Wort Freiheit in dieser Aufzeichnung eines Grundrisses des anarchistischen Weltbildes bis jetzt mit Bedacht vermieden worden. Das geschah, weil der Wille zur Freiheit so ursprünglich und tief in den Seelen der Menschen steckt, daß keine noch so autoritäre Lehre ohne die Anwendung des Freiheitsbegriffs und die Behauptung, sie sei die eigentliche Inhaberin des Freiheitsgedankens, auskommen kann. Sogar jeder Staat, sei er demokratisch, faschistisch oder bürokratisch regiert, beruft sich auf die Freiheit, wenn er Gesetze erläßt, Kriege führt und Gesinnungen unterdrückt. Alle Revolutionen werden unternommen, weil die Unfreiheit unerträglich geworden ist, und ihr belebender Kampfruf gilt immer der Freiheit. Aber noch alle Revolutionen sind verlorengegangen oder doch von dem Wege abgeglitten, den die Revolutionäre gehen wollten, weil das Verlangen nach Freiheit unerfüllt geblieben ist. Denn keine Partei, die sich an die Spitze einer Revolution stellt, um sich an die Spitze des Volkes zu stellen, das heißt, um die Macht über die Menschen zu ergreifen, geht in ihrer Freiheitswerbung je über das Versprechen hinaus, sie werde den Zustand beseitigen, in dem sich das Fehlen von Freiheit gerade in die Erscheinung setzt. Niemals erfahren ihre Anhänger in faßlicher Bestimmtheit, wie die verkündete Freiheit insgesamt beschaffen sein soll. Im besten Falle werden Freiheiten versprochen, die in einzelnen Punkten Erleichterungen gegen das Bestehende darstellen, nicht aber ein freiheitliches Gesellschaftsbild insgesamt zeigen.

Freiheit ist indessen nichts, was gewährt werden kann. Freiheit wird genommen und gelebt. Auch ist Freiheit keine Summe von Freiheiten, sondern die alle Lebensumstände umfassende Einheit der von jeder Obrigkeit und jeder Autorität gelösten Ordnung der Dinge. Es gibt keine Freiheit der Gesellschaft, wenn die Menschen in Unfreiheit leben. Es gibt keine Freiheit der Menschen, wenn die Gesellschaft unfrei, zentralistisch, staatlich, machtmäßig organisiert ist. Die Freiheit der Anarchie ist die freie Verbündung freier Menschen zu einer freien Gesellschaft. Frei ist der Mensch, welcher freiwillig handelt, der alles, was er tut, aus der eigenen Einsicht der Notwendigkeit oder Wünschbarkeit seiner Tat verrichtet. Die Voraussetzung dafür, daß jeder Mensch nur in freiwilliger Entschlossenheit das Seinige tut, ist eine Gesellschaft, die keine Vorrechte durch Macht oder Eigentum kennt. Alles Eigentum und alle ideelle Macht schafft Abhängigkeit, hebt somit die Freiwilligkeit aller in allem Beschließen und Handeln auf, ist also mit wirklicher Freiheit unvereinbar. Daher haben die Individualisten unrecht, wenn sie den Satz aufstellen, jeder Mensch habe den Anspruch auf Freiheit, doch ende dieser Anspruch bei der Freiheit des Nebenmenschen. Wo das Recht auf Freiheit für den einzelnen irgendeine Schranke findet, besteht keine gesellschaftliche Freiheit. Wenn nämlich die Begriffe Freiheit und Freiwilligkeit völlig gleichgesetzt werden, kann die Freiheit des einen niemals durch die Freiheit des anderen beeinträchtigt werden. Andernfalls liefe ja die die Freiheit des Mitmenschen störende Handlung auf Inanspruchnahme eines Vorrechtes hinaus, es bestände also der Zustand der Macht und der Unterordnung. Wer jedoch Vorrecht und Macht ausüben will, ist dabei auf die Willfährigkeit von Mitmenschen angewiesen, handelt also selbst nicht mehr unabhängig. Auch hieraus wieder ergibt sich die vollständige Einheit von Gesellschaft und Persönlichkeit und die Richtigkeit der oben aufgestellten Behauptung, daß niemand frei sein kann, ohne daß es alle wären. Es bliebe noch der alte Einwand zu entkräften, daß die Freiheit der Menschen an der Erfahrungstatsache scheitere, die die Unselbständigkeit der meisten und ihr Angewiesensein auf einen Führer erweise. Abgesehen davon, daß die Unselbständigkeit der Mehrzahl das Erziehungsergebnis sämtlicher autoritären Mächte ist, die je Seelen und Arbeitskräfte der Menschen ausgebeutet haben, kann die unzweifelhafte Richtigkeit des Gemeinplatzes, daß es verschiedene Begabungen gibt, und daß für manche Erfordernisse Anweisungen geeigneter Sachkundiger zweckmäßig sind, als Beweis für die Naturbedingtheit gesellschaftlicher Unfreiheit nur von Leuten geltend gemacht werden, die unter dem Einfluß autoritärer Erziehung jeden Glauben an Freiheit verloren haben und selbst nach Macht streben. Wir Anarchisten verabscheuen eine Führerschaft mit Befehlsgewalt und auf Dauer gesicherter Wirksamkeit, also jede Staatsregierung, Beamtenschaft und Parteizentrale, jede Diktatur und jede Klüngelherrschaft. Aber wir leugnen weder die Nützlichkeit des Spielleiters im Theater noch des Vorsitzenden einer Versammlung oder des Kapitäns auf einem Schiff. Hier teilen persönliche Eigenschaften dem Geeigneten bestimmte Aufgaben in bestimmten Fällen zu. Im politischen Kampf und ebenso beim Aufruhr oder in der Abwehr bewaffneter Angriffe gilt dasselbe. Wie eine wandernde Herde dem Leittier folgt, das nicht gewählt ist, sondern voran geht, weil es sich die beste Witterung zutraut, aber ermüdet sogleich von jedem anderen Tier abgelöst werden kann, so verhält es sich bei den Menschen auch. Es gibt Wortführer, es gibt Rädelsführer, das sind Personen, denen gefolgt wird, weil sie am klarsten den Willen aller zum Ausdruck bringen oder am entschlossensten ans Werk des Handelns gehen. Führer ist, wer vormacht, nicht wer Gesetze gibt oder eine Gefolgschaft am Halfter hinter sich herzieht.

Führerschaft im Augenblick der Tat und ohne Anspruch auf Dauer und Verzicht der andern auf Urteil und Selbstbestimmung schließt keine Freiheit aus, solange die Freiwilligkeit der Diensteinteilung keine freiwillige Verknechtung bedeutet. Sie kann es nicht bedeuten, falls Freiheit und Freiwilligkeit immer als der umfassende Begriff für alle anarchistischen Gesellschaftswerte aufgefaßt wird. Es gibt keine Freiheit ohne Gleichheit, wie es keine Gleichberechtigung ohne Freiheit gibt. Völlige Freiwilligkeit ist nur möglich beim Bewußtsein wachster Selbstverantwortlichkeit und bei lebendiger Pflege gesellschaftlicher Gegenseitigkeitshilfe. Gegenseitigkeit aber und Selbstverantwortung, Selbstvertrauen, Selbstbestimmung können nur gedeihen, wo die Freiwilligkeit die Triebkraft alles Lebens ist.

Anarchismus ist die Lehre von der Freiheit. Wo Ausbeutung ist, wo Macht ist, wo Autorität waltet, wo Zentralismus besteht, wo der Mensch den Menschen bewacht, wo befohlen und wo gehorcht wird, ist keine Freiheit. Die Zerstörung aller Obrigkeit, aller Vorrechte, aller Eigentums- und Versklavungseinrichtungen kann nur aus freiheitlichem Gemeinschaftsgeist erfolgen. Die staatlose Gemeinschaft freier Menschen, – das ist Kommunismus, die Verbundenheit Gleicher in Freiheit, das ist Anarchie!

 


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